Wie in Europa gibt es auch in der Türkei verschiedene Meinungen zu einem möglichen EU-Beitritt der Türkei. Dabei ist erstaunlich, dass ein Teil der islamischen Führer (!) den Beitritt befürworten, während säkularisierte (Namens-) Muslime in der Türkei sich eher gegen den Beitritt zur EU äußern. Im folgenden Beitrag wird die Lage der türkischen Moscheegemeinschaften beschrieben, ebenso werden aufschlussreiche Sätze eines islamischen Führers aus Konya zitiert
Nachdem er die Abendgebete in der Aladdin-Moschee in Konya geleitet hatte, drehte sich der Haupt-Imam um und dachte laut über Europa nach. Imam Muzaffer Getschgel schaute dabei zu den Gewölben der Moschee auf, die im 12. Jahrhundert erbaut worden war, als Konya Hauptstadt des Seldschukenreichs geworden war. Aber an diesem Freitag – der Imam hatte eben die Nachricht gehört, der Türkei sei der Weg zu Verhandlungen zum EU-Beitritt geebnet worden – war er zu sehr aufgeregt und begeistert von den sich öffnenden Zukunftsperspektiven, als dass er noch von der alten Geschichte der Moschee erzählen mochte.
Es mag paradox erscheinen – aber so wie die meisten führenden türkischen Imame ist auch er ein eifriger Befürworter des EU-Beitritts. Nicht etwa, weil er eine Schwäche für westliche Sitten hätte, sondern weil er glaubt, die Aufnahme der Türkei in die EU werde seine Macht vermehren. „Die Türken, die eine ähnliche Position haben wie ich, wollen zu Europa gehören, denn das wird größere Freiheit für uns bedeuten” sagt er. Obwohl die ganz große Mehrheit der Türken muslimisch ist, ist doch der türkische Staat entschieden laizistischer (strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften) und säkularer als die meisten Staaten in der EU. Die starke türkische Armee, die sich als die Beschützerin des Erbes von Republikgründer Atatürk versteht, weigert sich, der Regierung zu erlauben, die Ausübung der (islamischen) Religion zu fördern. Und dies, obwohl die regierende Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan streng islamisch ist. Die Armee hat in der Vergangenheit mehrmals Regierungen abgesetzt, die versuchten, die Macht der Generäle und Offiziere zu beschneiden oder die Verfassung im Sinne der islamischen Führer zu ändern. Um die religiösen Fundamentalisten besser kontrollieren zu können, wurden alle Moscheen zum Staatseigentum und alle Imame zu Staatsbeamten gemacht.
Religiöse Symbole sind aus dem öffentlichen Leben außerhalb der Moscheen verbannt worden. Mädchen und Frauen dürfen in den Schulen kein Kopftuch tragen, und Justizbeamten ist es verboten, sich einen Bart wachsen zu lassen. Eine Folge dieser Regeln ist, dass die Frau des Ministerpräsidenten nicht zu Empfängen im Präsidentenpalast eingeladen wird, denn sie besteht darauf, ein Kopftuch zu tragen. Die Mullah (Lehrer in der Moschee) dürfen keine eigenen Predigten schreiben und damit ihre Zuhörer nach den Freitagsgebeten begeistern, denn der Haupt-Mufti von Istanbul sendet per Fax an alle Moscheen im Land die Predigt, die am nächsten Freitag zu halten ist. Diese harsche staatliche Kontrolle des religiösen Lebens ist aber unvereinbar mit westlichen Konzepten. Ganz besonders in der EU denkt man über Religionsfreiheit anders als in der Türkei. Deshalb glauben die Islamisten in der Türkei, ein EU-Beitritt ihres Staates werde ihnen größere Freiheit bringen, ihre Religion so zu leben, wie sie es für richtig halten.
„Wir bitten unsere Regierung um Rechte und Freiheiten, aber unsere Regierung ist nicht in der Lage, uns diese Rechte zu geben” sagt Imam Getschgel. „In der Türkei gibt es höhere Mächte, die wiederum ihren jüdischen und amerikanischen Aufpassern Rede und Antwort schulden, und diese erlauben es unserer Regierung nicht, uns die gewünschten Freiheiten zu geben. Schon viel zu lang sind wir von anderen Mächten kontrolliert worden.”
Die Konzepte von erklärtem Säkularismus in der EU-Verfassung stören Imam Getschgel nicht. „Der Säkularismus in der EU ist sehr viel anders als der Säkularismus in der Türkei” sagt er. „In Europa versucht der Säkularismus nicht, die Religionsausübung der einzelnen Bürger zu behindern oder zu kontrollieren, was sie glauben.”
(Quelle: Mitteilungsblatt von „Friends of Turkey” in England)
Orientierung 2002-05; 15.02.2000…
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