Wenn ich Selbstkritik übe: Was ist der Maßstab, an dem ich mich messen soll? Und wozu soll eine kritische Selbstbetrachtung dienen? Doch nicht nur, um zu sehen, wie ich „aussehe“!
Das gehört einfach dazu: bevor wir aus dem Haus gehen noch rasch ein kritischer Blick in den Spiegel: „Kann ich mich so sehen lassen? Oder muss ich an meinem Aussehen noch schnell etwas ändern?“
Von Zeit zu Zeit ist eine gründlichere Selbstprüfung dran. Da geht es nicht nur um Äußerlichkeiten: wenn ich mein Verhalten in einer bestimmten Situation selbst nicht verstehe; wenn ich mit meinen Gefühlen nicht klar komme; wenn ich mich frage, ob ich (noch) auf dem richtigen Weg bin … In welchen Spiegel soll ich dann schauen? Das Bild, das ich mir von mir selber mache, kann mich ja sehr täuschen. Wenn andere mir „den Spiegel vorhalten“ und mir zu verstehen geben, dass sie dies und jenes an mir auszusetzen haben, kann das jedoch genau so wenig die „reine Wahrheit“ sein. Und hilfreich ist es auch nicht immer.
„Spiegel des Gesetzes“ oder „Spiegel des Evangeliums“
Da ist Gottes Wort ein viel objektiverer Spiegel, der nicht nur unser Verhalten beurteilt, sondern auch unsere Motive durchleuchtet. Dabei macht es allerdings einen großen Unterschied, ob wir uns in der Bibel als einem „Spiegel des Gesetzes“ oder als einem „Spiegel des Evangeliums“ betrachten. Denn sie spiegelt uns dann jeweils ein ganz anderes Bild wider – wie Paulus das im Philipper-Brief andeutet: dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. (Phil 3, 9)
„Meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt“
Wer sich im „Spiegel des Gesetzes“ betrachtet, entdeckt bei sich bestenfalls eine „Ja-Aber“– oder eine „Teils-Teils-Gerechtigkeit“. Paulus sah bei sich einige religiöse Vorzüge, auf die er hätte stolz sein können – und auf die er sicherlich auch eine Zeitlang stolz war: der ich am achten Tag beschnitten bin, aus dem Volk Israel … nach der Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, untadelig gewesen. (Phil 3,5+6) Aber dieses fast vollkommene Bild wird entstellt durch einen sehr hässlichen Zug: nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeinde. Gewiss, er hatte es aufrichtig gemeint, hatte gedacht, er diene Gott – und war dabei total verblendet gewesen (unfähig, sich selbstkritisch zu betrachten, könnten wir wohl sagen). Im Rückblick sieht er es nun deutlich: der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war (1. Tim 1,13) – und das macht all seine scheinbaren Verdienste zunichte.
Wenn ich im „Spiegel des Gesetzes“ mein Leben durchforsche und nach „meiner Gerechtigkeit“ (einem positiven Gesamturteil über mich) suche, entdecke ich vielleicht manches Gute. Aber andererseits: wie viele Versäumnisse muss ich feststellen, wie viel Versagen, wie Vieles, wo ich lieber schnell wegschaue! Wenn Gottes Geist mir dann noch hinter der Fassade zeigt, wie es wirklich um mich steht und wie ich selbst einiges Gute aus falschen Motiven getan habe, wird auch der Rest meiner „Vollkommenheit“ im Licht Seiner Reinheit fleckig und grau. Kein schöner Anblick! – Wie kann ich damit leben?
Natürlich können wir versuchen, die Flecken zu überdecken – und tun das auch oft genug. Wir sind ja sehr geschickte Maskenbildner. Aber wir wissen auch, wie sinnlos dieses „Make-up“ ist.
„Die Gerechtigkeit, die durch den Glauben an Christus kommt“
Im „Spiegel des Evangeliums“ lässt Gott uns ein anderes Gesicht sehen: das Gesicht unseres Herrn Jesus Christus, das Angesicht des Gekreuzigten. Weil Jesus Christus mit Seinem Tod für unsere Sünde bezahlt hat, können wir Ihm unser wahres Gesicht zeigen. Wir können uns ehrlich überprüfen und müssen unsere Schuld nicht mehr verstecken, sondern können sie offen vor Gott bekennen; dann wird sie nicht durch eine Schminke überdeckt, sondern durch Seine Vergebung ausgetilgt (vgl. 1.Joh 1,9).
Zugleich zeigt Gott uns das Gesicht unsres auferstandenen Herrn: durch den Glauben an Ihn sind wir eine neue Schöpfung (2. Kor 5,17). Beim Blick in den „Spiegel des Evangeliums“ sehen wir im Licht der Gnade Gottes ein „neues Gesicht“. In Jesus Christus hat Gott uns eine Gerechtigkeit geschenkt, die viel besser ist als unsere eigene. Die Gerechtigkeit unsres Herrn Jesus Christus ist selbst in Gottes Augen makellos. (Vgl. dazu 2. Kor 5,21)
„Die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird“
So zeigt sich uns im Spiegel des Wortes Gottes ein unwahrscheinlicher Anblick: einerseits ganz realistisch unser Gesicht mit allen Spuren unserer Schuld. Da wird nichts vertuscht, denn Gott hasst Lüge und Verstellung. Und zugleich – ebenso real – das selbe Gesicht nun erneuert durch das Licht der Gnade Gottes, der uns angenommen hat, wie wir sind, der uns Vergebung geschenkt und die Gerechtigkeit unseres Herrn Jesus Christus zugerechnet hat.
Wie kriegen wir das praktisch zusammen?
Wir können unserem Gewissen recht geben, wenn es uns anklagt; wir können es aushalten, wenn Gott uns (scheinbar gnadenlos) noch tiefer verborgene Sünden vorhält – weil wir durch Jesus Christus wissen: Er will uns nicht mit unserer Schande bloßstellen, sondern uns befreien und verändern. Darum können wir unsere Schuld bekennen – und zugleich durch den Glauben in Anspruch nehmen, dass Gott uns reinigt und erneuert.
Wir müssen uns auch vor Menschen nicht mehr verstecken oder zu rechtfertigen versuchen, wenn sie uns sagen, wer wir einmal waren (und oft leider immer noch sind). Was uns das „Recht“ gibt, vor Gott zu leben und uns zu Ihm zu bekennen, ist Seine Gnade – und die Gerechtigkeit, die Er uns „zurechnet“. Darin dürfen wir leben lernen und davon dürfen wir reden – und so Gott loben und ehren.
„Die Gerechtigkeit vor Gott aufgrund des Glaubens“ – das bedeutet: mein Vertrauen setze ich jetzt nur noch auf das, was Gott mir in Jesus Christus geschenkt hat.
Noch kurz etwas für Leute, die meinen, das sei zu billig: Wer Gottes Gerechtigkeit wirklich will, der will sie auch ganz. Der will die alten Flecken und Runzeln seines Lebens loswerden und sich von Gott wirklich verändern lassen (vgl. dazu auch 1.Joh 3,2+3). Seine Anstrengung ist wahrscheinlich nicht geringer, nur ganz anders als diejenige von Menschen, die sich aus eigener Kraft ändern und Gott zu Gefallen leben wollen. Ich glaube aber, dass nur der Gott wirklich ehrt, der aus Seiner Gnade lebt.
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