Wer etwas erzählt, kann etwas erleben. Wer etwas erlebt, kann etwas erzählen.
Eine „Schäfer-Geschichte“
Es muss schon über ein Viertel Jahrhundert vergangen sein, aber es ist mir noch gut in Erinnerung, wie ich – wohl zum ersten Mal – einem Muslim eine biblische Geschichte erzählte. Der junge Mann hatte für ein paar Jahre eine christliche Schule besucht. So kamen wir auch ins Gespräch darüber, was er dort über den christlichen Glauben gehört hatte. „Ja, irgendwelche Geschichten aus der Bibel“, meinte er. Als ich ihn fragte, ob er sich erinnern könne, wovon denn diese Geschichten handelten, fiel ihm nur ein: „So etwas von Schäfern.“
Daraufhin erzählte ich ihm das „Gleichnis vom verlorenen Schaf“ (Lk 15,3-6) und fügte an: „So wie dieser Hirte verhält Gott sich uns Menschen gegenüber: Wir entfernen uns von Gott, denken nicht an Ihn, übertreten Seine Gebote und geraten so auf Irrwege, bis wir uns völlig verlaufen, die Orientierung verlieren oder sogar in ‚Gestrüpp und Dornen hängen bleiben‘. Aber Gott hat Erbarmen mit uns; Er geht uns nach, um uns von unserer Sünde zu befreien und zu Sich zurück zu holen.“ – „Warum sollte Gott so etwas tun?“, fragte der junge Mann, halb erstaunt, halb verständnislos. „Nun, weil Er uns liebt“, antwortete ich. Darauf erwiderte er: „Mit dem Herzen könnte ich Ihnen folgen. Aber ob man das wirklich glauben kann? Es gibt ja so viele Unterschiede zwischen Islam und Christentum…“ – und es folgten einige der üblichen Einwände.
Mir wurde deutlich, wie manchmal Gottes Wort das Herz eines Menschen erreicht, aber dann sein „Kopf“ dazwischen kommt: Zweifel, kritische Argumente – und wahrscheinlich auch die Angst, das sei ja „zu schön, um wahr zu sein“. Und doch: eine solche Geschichte, die einmal das Herz erreicht hat, kann einen Menschen bewegen, sich auf die Suche zu begeben – bis er sich vom guten Hirten finden lässt!
Gott „im Laufschritt“?
Einige Jahre später hatte ich ein anderes „Erzählerlebnis“: Mit einer tunesischen Familie saßen wir am Kaffeetisch und sprachen unter anderem über Glaubensfragen. Wie es genau dazu kam, weiß ich nicht mehr; jedenfalls begann ich das „Gleichnis vom verlorenen Sohn“ (Lk 15,11ff) zu erzählen: vom jüngeren Sohn, der von seinem Vater verlangte, ihm schon jetzt (zu Lebzeiten des Vaters!) seinen Anteil am Erbe auszuzahlen – ein Verhalten, das den Vater zutiefst verletzen musste, und das sicherlich auch die Ehre der Familie in der ganzen Umgebung heruntersetzte; so etwas konnte ja nicht verborgen bleiben. Von seinem Luxus-Leben und seinem Absturz – und von seinem Entschluss, zum Vater zurückzukehren.
Als ich dann anfing zu schildern, wie der Vater seinem Sohn entgegenlief, hat es mich selber fast „umgehauen“. Ich dachte: ‚Was erzähle ich denn da! Wahrscheinlich ist den Menschen, mit denen wir jetzt gemütlich bei Kaffee und Kuchen zusammensitzen, Gott immer als der allmächtige Schöpfer, als der unumschränkte Herrscher über das ganze Weltgeschehen und als der strenge Richter geschildert worden – und nun erzähle ich (dem Beispiel von Jesus Christus folgend) von Ihm im Bild eines Mannes, der all seine Würde vergisst und über die Straße rennt – egal, wer ihn so sieht und über ihn den Kopf schüttelt! – nur um schnell bei seinem Sohn (diesem Sohn!) zu sein, um ihn zu umarmen und zu küssen!‘
Ich kann mich nicht erinnern, welchen Eindruck mein Erzählen bei den Zuhörern hinterlassen hat. Aber das kann ich nicht vergessen, wie mir die „unglaubliche“ Botschaft des Gleichnisses so tief wie nie vorher bewusst wurde. ‚Ist Gott wirklich so? So brennend in Seiner Liebe, in Seiner Liebe zu den Verlorenen, dass für Ihn alles andere nebensächlich zu sein scheint?!‘ Immer wieder empfinde ich eine tiefe Gewissheit: ‚Ja, so ist Gott wirklich!‘ – und zugleich ein fast „ungläubiges“ Staunen: ‚Kann Gott uns Sünder wirklich so sehr lieben?!‘ – Ich habe gestaunt (und staune immer wieder), wie Jesus von Gott erzählt hat – aber nicht nur erzählt! Er selber hat Sich ja sogar durch die „Schande“ des Kreuzes nicht abhalten lassen, uns „entgegenzulaufen“, um uns zu retten. Er hat uns nicht nur von Gottes Liebe erzählt, sondern Er hat uns diese Liebe ganz praktisch gebracht, indem Er Sein Leben für uns hingegeben hat!
Noch manches Mal habe ich im Gespräch mit Muslimen, besonders wenn ich biblische Geschichten nacherzählt habe, über Gott und Sein Wort gestaunt und das Evangelium tiefer verstehen und lieben gelernt. Deshalb mache ich Ihnen Mut: wenn Sie mit Muslimen ins Gespräch kommen, dann erzählen Sie ihnen, so wie sich Gelegenheiten dazu ergeben, Geschichten aus der Bibel – vielleicht besonders solche, die zeigen, wie Gott uns Sünder einlädt, zu Ihm umzukehren. Auch wenn die Zuhörer Ihnen die Geschichte nicht sofort glaubend und zustimmend „abnehmen“: sie kann ein Samenkorn sein, das nach einiger Zeit aufgeht und Frucht bringt. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass Ihnen selbst ganz altbekannte Geschichten aus der Bibel fast „unglaublich“ neu werden.
Orientierung 2012-05; 01.12.2012
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