Familie, Verwandtschaft, regionale und religiöse Gruppenzugehörigkeit besitzen einen in ihrem Ausmaß für westliches Empfinden kaum nachzuvollziehenden Einfluss auf Werdegang, Prägung und Einzelentscheidungen des türkischen Mannes. Weil jeder Mensch eine eigenständige Person ist, wird allerdings keine Aussage unterschiedslos auf alle türkischen Männer zutreffen. Was sind die Erwartungen der türkischen Gesellschaft an einen „vollwertigen“ Mann?
Die erwarteten Charaktermerkmale sind: Mut, Ehrbewusstsein und Stolz, Durchsetzungsfähigkeit, Selbstkontrolle, Großzügigkeit, Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft. Keinesfalls darf ein Mann allzu zurückhaltend, demütig oder leise, feminin, geizig oder schwatzhaft sein.
Vom türkischen Mann wird erwartet, dass er beherzt, stolz und selbstbewusst auftritt. Er muss ständig unterschwellig demonstrieren, dass er bereit und dazu in der Lage ist, seine eigene Ehre, die seiner Familie und die seines Vaterlandes oder seiner Religion zu verteidigen. So soll ein Mann dem Blick seines Gegenübers standhalten, sich laut und deutlich artikulieren und bei Konfrontationen nicht vorschnell zurückweichen. Während er Älteren und Höhergestellten gegenüber respektvoll auftritt, sollte er auf dem Respekt Jüngerer und Niedriggestellter bestehen. Abgesehen von engen Verwandten sollte er Frauen mit Zurückhaltung begegnen. Sein gewöhnlicher Umgang außer Haus sollte sich weitgehend auf Männer beschränken.
Erwartet wird, dass ein Mann regelmäßig einer Tätigkeit außer Haus nachgeht. Längere Zeit untätig zu Hause im Kreis seiner (weiblichen) Familienmitglieder zu sitzen, wird als inakzeptabel angesehen. Selbstverständlich ist, dass er seine Familie materiell versorgt; ein gewisser Wohlstand wird sein Ansehen jedoch steigern. Gleichzeitig sollte er unter Verwandten und Freunden immer wieder seine Großzügigkeit und Hilfsbereitschaft unter Beweis stellen. Verweigerung materieller Hilfe oder allgemeine Kleinkariertheit bringen einen Mann hingegen in Verruf.
Ein Mann muss sich in erster Linie seiner Familie, dann seiner Verwandtschaft sowie der eigenen regionalen und religiösen Gruppe gegenüber absolut loyal verhalten. Verwandtschaftliche Verpflichtungen und erbetene Hilfeleistungen sind unbedingt so zu erfüllen, dass der Mann nicht in die Schuld seiner Verwandten gerät. Zumindest nach außen muss er seiner religiösen Gruppe treu bleiben. Wichtige Entscheidungen sind nicht eigenmächtig, sondern in enger Abstimmung mit den Eltern, Onkeln, älteren Brüdern usw. zu fällen.
Daraus ergeben sich Schwierigkeiten für den türkischen Mann, der in Deutschland weiterhin den Erwartungen der türkischen Gesellschaft zu entsprechen sucht:
* Von resoluten Frauen in deutschen Amtsstuben fühlt er sich herabgesetzt.
* Um seine Autorität innerhalb der Familie durchzusetzen, hält er die Anwendung von körperlicher Gewalt manchmal für notwendig, sieht sich aber dann mit der Polizei konfrontiert und weiß deshalb nicht, was er in solchen Fällen tun soll.
* Der sehr freizügige Umgang unter den Geschlechtern in der deutschen Gesellschaft erschwert die Aufgabe des Mannes, die Ehre seiner Frau und seiner Töchter (oder Schwestern) so zu wahren, dass er seinem eigenen und dem Anspruch der Großfamilie genügt.
* Von Arbeitslosigkeit überproportional betroffen, steht er vor der Frage, was er mit seiner freien Zeit anfangen soll und landet häufig in der Monotonie eines der zahlreichen Kaffeehäuser.
* Die Ablehnung, die er von Seiten der Deutschen häufig erlebt, die Arbeitslosigkeit und materielle Knappheit, die zu sinkendem Ansehen auch innerhalb der türkischen Gesellschaft führen, unterminieren den Stolz und die Selbstachtung des türkischen Mannes.
Orientierung 2013-02; 08.04.2013
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