Meist wird der Islam als eine typische Buch- und Gesetzesreligion betrachtet. Wie in allen Religionen gibt es allerdings auch im Islam eine mystische Bewegung, die als „Sufismus“ bezeichnet wird. Ihr Anliegen war es von Anfang an, die bloße Befolgung der Vorschriften des Islam durch tiefere Dimensionen des Glaubens zu erweitern.
Geschichte des Sufismus
Schon früh hatten einige Muslime das Bedürfnis, den Islam in einer stärker verinnerlichten Form zu leben. Über die Glaubenspflichten des Islam hinaus versuchten sie, den verborgenen Sinn des Koran durch Übung von Armut (pers. darwisch – der Arme) und Askese zu ergründen. Diese frühen Asketen im Islam wurden „Sufis“ genannt, vermutlich weil sie damals meist Gewänder aus grober Wolle (arab. suf) trugen. Die Sufis selbst führen ihre Tradition direkt auf Mohammed zurück, den sie als den ersten Sufi-Scheich verstehen. Die westliche Forschung weist meist auf das 8./9. Jahrhundert für eine frühe asketische Bewegung vor allem im Gebiet des heutigen Irak hin. Es ist möglich, dass der Sufismus durch Wechselwirkungen mit christlich-asketischem Mönchstum oder durch Einflüsse von östlichen Religionen zustande kam. Besondere Bedeutung in der geschichtlichen Entwicklung des Sufismus kommt Mohammed al-Ghazali (gest. 1111) zu. Als Gelehrter trug er entscheidend dazu bei, dass der (gemäßigte) Sufismus mit der orthodox-islamischen Theologie zusammen gedacht werden konnte und so für viele Muslime akzeptabel wurde. Eine Skepsis gegenüber dem Sufismus ist jedoch nach wie vor weit verbreitet. Von vielen Muslimen wird er als ein Irrweg und als Abfall vom reinen Islam entschieden abgelehnt.
Sufi-Orden
Im engeren Sinne bezeichnet das Wort „Sufi“ eigentlich das Mitglied eines der vielen verschiedenen Sufi-Orden. Ab dem 12. Jahrhundert entstanden solche Orden überall in der islamischen Welt. Meist wurden sie nach ihren Gründern benannt, wie etwa der Mevlevi-Orden (Tanzende Derwische) nach Mevlana Rumi (gest. 1273) oder die Naqschbandiyya nach Baha’uddin Naqschband (gest. 1389). Die großen Sufis werden als Heilige verehrt und ihre Grabstätten sind deshalb wichtige Wallfahrtsstätten. Zwischen den einzelnen Orden gibt es gewaltige Unterschiede; jeder hat seine eigenen Traditionen: diese reichen von gemäßigten Formen bis hin zu stark ekstatischen Trance-ähnlichen Meditationsformen. Geleitet werden die Orden auch heute noch von einem spirituellen Führer (Scheich), der die Mitglieder des Ordens auf ihrem Weg zur „Schau Gottes“ unterweist und begleitet. Ein eintretendes Mitglied schwört ihm unbedingten Gehorsam, weswegen der Einfluss dieser geistlichen Führer sehr groß ist.
Der Weg des Sufismus
Trotz der großen Unterschiede in den verschiedenen Sufi-Orden haben sie gewisse Überzeugungen gemeinsam. Grundlegend ist die Auffassung, dass der Mensch unterwegs ist und dass das Ziel das Aufgehen in Gott ist. Unter Anleitung des spirituellen Meisters macht der Schüler sich nun auf die Reise, sich von den Dingen dieser Welt zu lösen und sich stattdessen ganz auf die Liebe zu Gott zu konzentrieren. Häufig geht man dabei von einem Stufenweg aus, bei dem man mit dem Gesetz (Scharia) beginnend über verschiedene Stufen schließlich zur vollkommenen Erkenntnis und zur „Schau Gottes“ gelangt. Über die Praktizierung der fünf Säulen des Islam hinaus, sind weitere Elemente wichtig: so z. B. der Rückzug in Klausur (Einsamkeit/Stille), die Verrichtung zusätzlicher individueller und gemeinschaftlicher Gebete, Askese, Meditation und Kontemplation. Eine wesentliche Rolle spielt meist insbesondere das „Gottgedenken“ (arab. dhikr), bei dem „mantraartig“ die schönsten Namen Allahs und andere heilige Formeln (etwa das Aufsagen der Silben „ya allah“) über längere Zeit wiederholt werden. Durch mystische Übungen der Versenkung in Gott (wie z. B. Tänze im Mevlevi-Orden) soll das Aufgehen des eigenen Seins in Gott erstrebt werden – also eine existentielle Erfahrung der Einheit mit Gott.
Bedeutung des Sufismus
Für die Geschichte des Islam ist die Bedeutung des Sufismus nicht zu unterschätzen, da er mit dazu beitrug, Einwohner der Gebiete, die von den Muslimen rasch erobert worden waren, auch innerlich zu „islamisieren“. Der Einfluss der Sufi-Orden auf Gesellschaft und öffentliches Leben war teilweise so enorm, dass die islamischen Machthaber sie oft beargwöhnten, teilweise sogar bekämpften und verboten. Doch bis heute ist der Sufismus eine immer noch starke Bewegung, selbst dort, wo die Orden offiziell verboten sind (wie z. B. in der türkischen Republik). Auch wenn die Zahl der tatsächlichen Ordensmitglieder begrenzt ist, besitzt er doch über die eigentlichen Orden hinausgehend einen großen Einfluss, gerade für den Volksislam des „einfachen Mannes“, der gerne einzelne Elemente des Sufismus für sich übernimmt.
Sufismus in Deutschland
Traditionelle Sufi-Orden gewannen verstärkt ab 1970 auch deutsche Anhängerschaft. Die größte Sufi-Gemeinschaft im deutschsprachigen Raum ist die Naqschbandiyya, die als besonders Scharia-konform gilt. In der Eifel betreibt man die sogenannte „Osmanische Herberge“, die sich als das Sufi-Zentrum in Deutschland versteht und auch zu öffentlichen Vorträgen und Veranstaltungen einlädt. Von einer gewissen Bedeutung ist zudem der Mevlevi-Orden (Tanzende Derwische), der Gruppen in Nürnberg, Frankfurt und München besitzt. Hier können Deutsche an „Tanzkursen“ für den Derwisch-Tanz teilnehmen und werden zudem in das Gedankengut des Sufismus eingeweiht. Ein weiteres Zentrum besteht in Trebbus/Brandenburg, wo auch das dem Orden nahestehende „Institut für Islamstudien – Sufi-Archiv Deutschland“ seinen Sitz hat (nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls IfI abgekürzten „Institut für Islamfragen“ der Deutschen Evangelischen Allianz). Neben diesen traditionellen Sufi-Orden gibt es sufistische Gruppierungen, die sich nicht primär islamisch verstehen, sondern als „Essenz aller Religionen“. Zudem ist festzustellen, dass sufistisches Gedankengut zunehmend im Westen auch losgelöst vom Islam gerne in verschiedene Formen esoterischer „Patchwork-Religiosität“ eingebaut wird.
Beurteilung
Die Sehnsucht nach mystischer Erfahrung, nach Gottesliebe und Einssein mit Gott ist ein allgemeines Phänomen, das sich mehr oder weniger in allen Religionen findet. Dass es hier um mehr geht, als um bloße Erfüllung von Gesetzen, lässt den Sufismus vielleicht zunächst als tolerant erscheinen; meist ist er jedoch an gewissenhafte Ritenerfüllung als Grundlage gebunden. Biblisch-theologisch betrachtet spiegelt sich im Sufismus, wie in allen mystischen Bewegungen innerhalb der Religionen, letztlich das Bedürfnis des Menschen nach einer liebevollen Beziehung zu seinem Schöpfer. Das biblische Menschenbild spricht deutlich davon, dass der Mensch für eine persönliche Beziehung zu Gott geschaffen wurde und nur darin seine Erfüllung findet. Diese tiefste Sehnsucht des Menschen kann durch eine Gesetzesreligion allein nicht gestillt werden. Der Sufismus ist nun als Versuch zu verstehen, dieses menschliche Bedürfnis auf Grundlage der islamischen Religion oder zumindest von ihr ausgehend zu stillen. Letztlich zum Ziel kommen kann diese menschliche Sehnsucht jedoch nicht über die Beschreitung einer mystischen Stufenleiter von menschlicher Seite aus. Nach biblischem Verständnis ist dies nur möglich über die Person Jesus Christus, in dem Gottheit und Menschheit eins geworden sind. Nur in seinem Heilswerk kann die Trennung zwischen Gott und Menschheit überwunden werden. Anteil an diesem von Gott gewirkten Gnadengeschenk bekommt der Mensch nur im Glauben an Christus, in dem er nun tatsächlich das Einssein mit Gott erfahren darf; nicht im Sinne eines Aufgehens seiner eigenen Person, aber im Sinne einer liebevollen, persönlichen Beziehung. Auf dieser Grundlage bekommen dann auch für den Christen Dinge wie Meditation über Gottes Wort, Gebet und Stille durchaus eine wichtige Bedeutung.
Orientierung 2011-05; 25.11.2011
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