Aleviten

Während die Mehrheit der türkischen Bevölkerung dem sunnitisch-orthodoxen Islam angehört, sind nach Schätzungen bis zu 30% Aleviten. Unter den Menschen türkischer Herkunft in Deutschland liegt dieser Anteil vermutlich sogar noch höher. Viele Kurden aus der Türkei sind Aleviten. Es gibt jedoch auch sunnitische Kurden und alevitische Türken. Aleviten führen sich auf Ali, den Schwiegersohn Mohammeds zurück. In der Verehrung Alis stimmen sie mit einer großen Hauptrichtung im Islam, der Schia, überein. Eine weitere Quelle des Alevismus ist der Batinismus, eine Bewegung, die schon in der Frühgeschichte des Islam für eine mystische und gesetzeslose Beziehung zu Allah warb. Seine besondere Prägung erhielt der alevitische Glaube allerdings erst unter den Türken in Anatolien. Einige der türkischen Stämme, die ab dem 11. Jahrhundert von der mongolischen Steppe her nach Anatolien einfielen, lernten auf ihrem Weg den Islam in seiner batinistisch-gesetzeslosen Form kennen. Im Laufe der Zeit wurden mit diesem Glauben Elemente des Schamanismus der Turkvölker verschmolzen. Die herausragende Figur des anotolischen Alevismus wurde Hadschi Bektasch Veli (ca. 1248 – 1337), dem in der Überlieferung große Gelehrsamkeit und Wunderkräfte zugeschrieben werden. Bektaschismus und Alevismus sind seitdem fast gleichzusetzen. Laut alevitischer Lehre ist Gott nicht fern. Er lebt im sogenannten „perfekten Menschen“ – besonders war das der Fall bei Ali, aber auch bei Jesus, Mohammed und anderen. Der „perfekte Mensch“ wird als geradezu göttlich angesehen. Weil er selbst Gut und Böse erkennen kann, sind äußere Gesetze oder religiöse Bücher unbedeutend. Da Gott im Menschen ist, besteht Gebet in erster Linie im Nachdenken über sich selbst. Statt ritueller Gebete in der Moschee trifft man sich zu Gemeinschaftsversammlungen (Dschem), bei denen Tanz, Musik und religiöse Erzählungen im Vordergrund stehen. Männer und Frauen nehmen gleichberechtigt daran teil. Aleviten haben im osmanischen Reich eine sehr wechselhafte Rolle gespielt. Oft erlebten sie jedoch Feindschaft und Unterdrückung seitens der sunnitisch-orthodoxen Muslime. So ist es zu verstehen, dass Aleviten die Politik Atatürks begrüßten, der nach dem ersten Weltkrieg die Verwestlichung der Türkei auf Kosten des Islam einleitete. Als Reaktion auf das Erstarken des Islam nach Atatürks Tod, wandten sich viele junge Aleviten sozialistischen Parteien zu. Erst nach dem Zerbruch des russischen Sozialismus und dem Aufkommen des fundamentalistischen Islam besinnen sich Aleviten wieder stärker auf ihre religiösen Wurzeln. Für die meisten ist jedoch das Alevitentum heute mehr eine Lebensphilosophie als eine Religion. Die schlimmen Erfahrungen mit sunnitischen Muslimen und die eigene religiöse Leere führen dazu, dass manche Aleviten in Deutschland sich dem Christentum, besonders dem weniger gesetzesbetonten Glauben der Protestanten, nahe fühlen. Die Betonung der Liebe, Jesu Erbarmen auch gegenüber Armen und Geringen sprechen sie an. Sie werden in der Regel schnell bejahen, dass der Mensch nicht durch Gesetzeserfüllung, sondern durch eine vertraute Beziehung Gott nahe kommt. Auch wenn wir bei alevitischen Freunden also weniger negative Vorurteile über das Evangelium erwarten müssen als bei Sunniten, wäre es ein Irrtum anzunehmen, der Schritt zur Erlösung sei für sie natürlich. Dass Gott heilig ist und ein Recht hätte, uns für unsere Sünden zu strafen, ist der alevitischen Glaubensvorstellung fern. Manche Aleviten können leicht „Ja zu Jesus“ sagen. Weil sie ihre Erlösungsbedürftigkeit nicht sehen, fällt es ihnen jedoch schwer, Jesus als den einzigen Weg zu Gott zu akzeptieren.

So sind wir auch bei Aleviten auf ein tiefgehendes Wirken des Heiligen Geistes angewiesen, der sie von ihrer Sündhaftigkeit überzeugt und ihnen die Herrlichkeit Jesu zeigt.

 

Orientierung 1998-03; 15.06.1998

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