Herr Friedrich, Lehrer an einer christlichen Schule, stellt westliche Individualkultur und östliche Kollektivkultur einander gegenüber. Grundfaktoren für Integrationsprobleme sieht er in den Bereichen Nationalität, Kultur und Religion
Knapp ein Fünftel der Gesamtbevölkerung Deutschlands hat inzwischen einen Migrationshintergrund. Viele Immigranten sind relativ gut integriert, z. B. die Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, die mit 25% die größte Gruppe stellen. Am schlechtesten ist die zweitgrößte Gruppe integriert: die türkischstämmigen Migranten (ca. 18%). Neben den Integrierten gibt es Kaum-Integrierte, die als Kinder nach Deutschland kamen oder die schon hier geboren worden sind, sich aber noch immer als Fremde in diesem Land fühlen.
Der Schlüsselbegriff zu diesen Integrationsproblemen ist nach der Meinung des Autors Identität. Identität kann definiert werden als die Summe aller Merkmale, anhand deren sich ein Individuum von anderen unterscheidet. Das erlaubt eine eindeutige Identifizierung einer Person. Man unterscheidet dabei die Ich-Identität (einzigartige Merkmale) und die Wir-Identität (mit einer Gruppe geteilte Merkmale).
Die Ich-Identität, auch Selbstbild genannt, ist gekennzeichnet durch das, wie sich jemand selbst sieht, erlebt, bewertet und äußert, wie jemand sein eigenes Leben – von der Wiege bis zum Grab – interpretiert und ihm Sinn gibt, wie jemand sein Leben mit der Vergangenheit und der Zukunft verbindet, ausgedrückt durch die Fragen: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?
Die Wir-Identität ist gekennzeichnet durch das, wie andere aus der Gruppe, zu der ich gehöre, mich sehen, erleben, bewerten und mir das vermitteln, wie andere mein Leben interpretieren und ihm Sinn geben, wie andere mein Leben mit der Vergangenheit und der Zukunft verbinden (äußere Zukunftserwartungen).
Die Entwicklung der Ich- und Wir-Identität durchläuft verschiedene Phasen im Leben eines Menschen, gekennzeichnet durch Dialoge und Konflikte, es spielen sich zwei- oder mehrseitige Interaktionsprozesse ab: zwischen Individuen, zwischen Individuum und Gruppe. Kommt es zum Konflikt, bringt dieser Gewinner und Verlierer hervor. Ein Dialog dagegen Gewinner, wenn es neben dem Wissen auch um eine offene Haltung und Sensibilität für Unterschiede in der Wahrnehmung von Menschen geht. Ein Dialog ist weder kuschelweich noch unverbindlich. Er darf scharf und zielgerichtet sein. Das kann in einer guten „Streitkultur“ funktionieren, wo man zwar hart in der Sache ist, aber die andere Person respektiert und ihr helfen will im Sinne von „In Liebe die Wahrheit sagen, die einen Menschen frei macht“ (Joh 8,32; Eph 4,15).
Allgemein leidet die Identität eines Menschen dann, wenn er sich so verändert oder beeinflusst wird, dass wesentliche Kriterien der Identitätsfindung entfallen oder geändert werden. Genau das trifft auf die 2. und 3. Generation zu. Sie haben die Kultur ihres Herkunftslandes als Kinder verlassen oder wurden schon in Deutschland geboren, fühlen sich aber dennoch häufig als Ausländer bzw. sind in Deutschland nie heimisch geworden. Es gibt kaum Vorbilder, die andere mit sich ziehen könnten. Warum ist das so? Die Hauptursachen für diese Integrationsprobleme liegen nach der Meinung des Autors bei den drei Grundfaktoren Nationalität, Kultur und Religion, welche die Ich- und Wir-Identität eines Menschen entscheidend prägen.
Grundlagen der deutschen und türkischen Nationalität
Bis Anfang des 20. Jahrhunderts gab es viele Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen dem Deutschen Kaiserreich und dem Osmanischen Reich unter der Führung des türkischen Sultans: ein zentralistischer Staat mit einem Oberhaupt, einer einheitlichen Nationalität, Kultur und Religion in der großen Mehrheit der Bevölkerung. So kämpften das deutsche und türkische Reich als Verbündete im 1. Weltkrieg zusammen. Doch mit der Niederlage im 1. Weltkrieg ergaben sich unterschiedliche Entwicklungen in beiden Ländern. Durch die Gleichsetzung von Nationalstolz mit männlichem Stolz werden die inneren Werte von Türken entscheidend geprägt. Diese Tatsache wird mit einem Zitat von Atatürk zusammengefasst: „Ne mutlu Türküm diyene“ oder zu Deutsch „Wie glücklich ist der, der sagen kann: Ich bin Türke“. Ein Deutscher wagt kaum, einen solchen Satz über seine Nationalität zu sagen, wie es die Diskussionen über die deutsche Leitkultur in jüngster Vergangenheit gezeigt haben.
Grundlagen der deutschen und türkischen Kultur
Nationalität und Kultur eines Landes sind sehr eng verwoben. Durch das Wirtschaftswunder in Westdeutschland und die fortlaufende Entwicklung der Gesellschaft steht im Zentrum der deutschen Kultur zunehmend die Einzelperson, wobei sich Ostdeutschland mehr und mehr dem Westen anpasst. Das Ergebnis ist eine postmoderne Individualkultur, die durch Eigenschaften wie hohe Flexibilität, Mobilität, Effizienz, Technisierung, Einsatz- und Leistungsbereitschaft gekennzeichnet ist. Alle diese Eigenschaften hängen direkt von der Einzelperson ab – je mehr Erfolg, desto mehr Belohnung. Das ist das „Mantra“ der heutigen deutschen Gesellschaft (Anmerkung der Redaktion: Leider verliert dabei der Mensch als „soziales Wesen“ immer mehr an Wert).
Dagegen ist in der türkischen Gesellschaft nach wie vor die Kollektivkultur der Standard. Die wichtigste Gruppe ist nach wie vor die Familie, die für alle Mitglieder eine ausreichende Versorgung in allen Lebensabschnitten sicherstellt. Ein Sozialsystem wie in Deutschland gibt es in der Türkei nicht. Beide Kulturen, die Kollektivkultur in der Türkei und die Individualkultur in Deutschland, weisen viele Unterschiede auf.
Grundlagen der deutschen und türkischen Religion
Es gibt zahlreiche und vielfältige theologische Unterschiede. Grundlegend ist im Islam die Einheit von Staat und Religion, Glaube und Gesellschaft, also Gruppenorientierung mit starker Betonung von Ehre und Scham anstatt Individualismus. Bezüglich der Einheit von Staat und Religion im Islam ist die laizistische Republik der Türkei eine Ausnahme unter den islamischen Ländern, wenigstens in der Theorie. Atatürk führte mit der Gründung der Türkischen Republik 1923 durch die Abschaffung des Kalifats die Trennung von Staat und Religion ein. Der Islam ist nicht allein eine Religion, sondern zugleich ein in sich geschlossenes, für Muslime verbindliches rechtlich-politisches Werte- und Gesellschaftssystem. Die Konsequenzen der theologischen Unterschiede sind sehr tiefgehend und weitreichend.
Christliche Konzepte sind Grundlage der Reformation, die den Boden für die Aufklärung und alle weiteren Epochen in der christlichen Welt vorbereitete. Dadurch beeinflusste sie maßgeblich die Entwicklung demokratischer Staaten nach den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Im Islam gab es dagegen bis heute keine Reformation. Das liegt vor allem an dem islamischen Selbstverständnis der Einheit von Staat und Religion.
Wer also die 2. und 3. Generation verstehen will, muss ihre Prägungen durch Nationalität, Kultur und Religion kennen und vor allem ihre Wir-Identität beachten.
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