Konflikbewältigung bei Türken

Im Alltag des Berufes, der Schule und der Nachbarschaft entstehen im Zusammenleben mit Türken auch Konflikte. Oft können wir diese nicht so lösen, wie es unter Deutschen üblich ist, weil der Gesichtsverlust eine große Rolle spielt. Deshalb werden Konflikte eher indirekt gelöst.

 

Durch das Buch von Duane H. Elmer (siehe Buchempfehlung) angeregt, möchte ich hier speziell die Situation der Türken beleuchten. Es gibt viele verschiedene Gruppen von Türken, die unterschiedlich auf Konflikte reagieren können: z.B. die Laz (Schwarzmeertürken), Kurden, Hochlandtürken, Großstädter, Türken in Deutschland. Wie sehen Konfliktlösungsmöglichkeiten mit Türken und Orientalen im Allgemeinen aus? Immer wieder merken wir in den Begegnungen mit Türken, dass es „knistert“. Wir verstehen nicht, wie der andere „funktioniert“. Wie können wir türkische Christen korrigieren, ohne dass sie sich abgelehnt fühlen? Das ist in deutschen Gemeinden bereits innerhalb einer Kultur ein großes Problem. Zu schnell greifen wir auf die Anweisung in Matthäus 18, 15-17 zurück, die eine direkte Konfrontation mit dem fordert, der sich versündigt hat. Bei Türken ist es gut, zuerst einmal den indirekten Weg der Zurechtweisung zu gehen, der es ermöglicht, eine Sache ohne Gesichtsverlust zu bereinigen. In der Bibel finden wir dazu jeweils Parallelen.

 

Die Bedeutung der Scham

In der türkischen Sprache gibt es das Wort „ayip“, was soviel heißt wie „schandbar“ oder „Schäm dich!“ Das ist das Schlimmste, was man zu einer Person sagen kann. Oft wird es von Eltern ihren Kindern gegenüber als Erziehungsmethode verwendet. Türken legen großen Wert darauf, sich gegenseitig anzuerkennen und zu ehren. Deshalb ist es ihnen wichtig, jeden Einzelnen in der Gruppe mit Handschlag zu begrüßen. Selbst türkische Schüler in Deutschland geben sich gegenseitig die Hand zur Begrüßung. Das Gesicht zu wahren ist für Türken ein äußerst wichtiges Element ihres Selbstwertes.

Es ist durchaus legitim, in einer Gruppe allgemein über ein Problem zu sprechen, ohne die Person direkt beim Namen zu nennen, die sich etwas zuschulden kommen ließ. In einem türkischen Verein in Deutschland dagegen löst man Probleme mit Mitgliedern, indem sich eine Gruppe von Männern mit dem Irrenden an einen Tisch setzt. Sie kennen sich alle gegenseitig gut. Er wird direkt in die „Mangel“ genommen und mit Erfolg korrigiert.

Ein Gast darf tun, was er will. Korrektur würde diesen beschämen und sich nicht gehören. So dürfen besuchende Kinder das Haus des Gastgebers auf den Kopf stellen, ohne dass er einschreitet, ja, er beschwichtigt sogar die Eltern des Kindes, obwohl er vielleicht innerlich ärgerlich ist, weil das betreffende Kind etwas zerbrochen hat. Eine Möglichkeit der Vorbeugung ist es, wertvolle und zerbrechliche Gegenstände vorher zu entfernen und den Besuch auf ein Zimmer zu beschränken, was sowieso üblich ist.

Wenn wir in einer Krise nach deutschem Denken und westlichen Werten vorgehen, kann das ungewollte Folgen haben. So habe ich selbst einmal eine Person vor einer Gruppe türkischer Christen lächerlich gemacht. Nach deutsch-christlicher Tradition wollte ich den Fehler ausbügeln, indem ich meine Schuld vor der gleichen Gruppe bekannte. Doch die türkische Frau wertete das als erneute Herabsetzung ihres Mannes in aller Öffentlichkeit und als Gesichtsverlust. Die Folge war ein schwerwiegender Bruch der Beziehung.

 

Geschichten, Sprichwörter, Gleichnisse und Rätselworte

In der Bibel haben wir im Buch „Sprüche“ einen Beobachtungs- und Erfahrungsschatz zur Bewältigung unseres Lebens. Jesus selbst hat eine große Menge an Gleichnisgeschichten und Rätseln erzählt. Er konfrontierte die Pharisäer unter anderem auf indirekte Weise mit einer Beispielgeschichte, um ihnen die Umkehr von Stolz und Hochmut zu ermöglichen (Lk 18,10-14). Unter Türken werden weniger Geschichten, sondern eher Sprichwörter verwendet, um auf eine Sache hinzuweisen. Diese Sprichwörter zu lernen und richtig anzuwenden, kann eine große Hilfe sein. Um z.B. gegen Neid vorzugehen, kann man folgendes sagen: „Das Huhn des Nachbarn erscheint dem Nachbarn wie eine Gans“ („komschunun tavuu, komschuna kas görünür”).

 

Hilfe in Anspruch nehmen

Eine weitere Methode der Korrektur ist es, anderen die Möglichkeit zu bieten, uns zu helfen. So erzählt eine junge türkische Christin von einem Mann, der sich vermutlich auf eine uneheliche Beziehung eingelassen hatte. Um ihn zu korrigieren spricht sie mit ihm auf Umwegen („dolayle”) folgendermaßen: „Ich habe einen Bekannten, der hat ein Problem. Was denkst du darüber? Er ist ein Türke und hat Jesus angenommen, aber es gibt noch Gebiete, auf denen er wachsen muss.“ Dann erzählt sie ihm von seiner Situation und fragt, was er dazu sagt. Natürlich zitiert der Betroffene dann die richtigen Bibelverse. Er weiß aber nicht, ob die junge Frau ihn ertappt hat oder nicht. Auf jeden Fall ist es für ihn ein Hinweis.
Die Frau gab sich hilfsbedürftig. Hätte sich der Betroffene zornig von ihr abgewandt, hätte sie sich trotzdem weiter um ihn gekümmert. Das wird erwartet. Sie hätte dann gesagt: „Wir sind Freunde, aber ein echter Freund sagt die Wahrheit, auch wenn sie weh tut“ („dost adsche söyler”).

Sie erzählt weiter von einer westlichen Familie, die sie besucht hatte. Die Gastgeberin sagte ihr, nachdem ein Vogel im Käfig ihre Aufmerksamkeit erregt hatte: „Fass den Vogel nicht an!“. Das hat sie so stark verletzt, dass sie nicht mehr zu der Familie hingehen wollte. Besser wäre folgende Korrektur gewesen: „Ich möchte eigentlich nicht, dass der Vogel frei herumfliegt.“ Worte wie „Du“ und „Nein“ in der Korrektur sollten nicht verwendet werden, um die Person nicht zu verletzen. Denn Türken tun sich schwerer als Deutsche, die Sache von der Person zu unterscheiden, und empfinden Kritik an der Sache als persönlichen Angriff.

Bei einer Predigt können sich Neue vom Prediger persönlich kritisiert und angegriffen fühlen. Deshalb ist es gut zu fragen, wer zum ersten Mal im Gottesdienst ist und darauf hinzuweisen, dass Beispiele und Aussagen nicht auf jemand Bestimmten gemünzt sind. Wenn jemand durch die gesagten Worte persönlich betroffen wird, soll er das als Hinweis von Gott aufnehmen und nicht von Menschen.

Wenn ein türkischer Mitschüler auf dem Schulweg unseren Kindern Probleme macht, sollten wir – ohne den Stolz des Türken zu verletzen – seine Familie besuchen. In freundlichem Ton können wir dabei die Eltern bitten, dass sie uns in dieser Sache helfen. Ohne Namensnennung wird von dem Problem allgemein gesprochen und gebeten, dass der türkische Junge in solchen Fällen unseren Kindern beisteht. Wir treten als Hilfsbedürftige auf und die Tür öffnet sich. Auch in der Bibel finden wir dazu Beispiele wie die weise Frau von Tekoa bei David (2. Sam 14,1-4).

 

Schweigen, Inaktivität

Als Menschen aus dem Westen geben wir auf alles eine klare Antwort. Türken dagegen weichen uns bei einer Einladung zum Besuch oder Gottesdienst aus oder sagen gerne „Ja, Inschallah“, erscheinen aber nicht und sagen auch nicht ab. Es handelt sich um ein „Beziehungs-Ja“, ein Ja, das nur deshalb gesagt wird, weil man dem anderen kein direktes „Nein“ ins Gesicht zumuten kann. Anschließend wird man schon merken, wie der andere es gemeint hat, wenn er nicht erscheint. Als Westler empfinden wir ein solches Verhalten unaufrichtig. Fakt ist aber, dass nie ein klares Ja gesagt wurde, wir haben es nur so verstanden. Wir selbst sollten uns merken, kein direktes „Nein“ zu sagen, um den Betroffenen nicht vor den Kopf zu stoßen, sondern dieses Nein indirekt zu kommunizieren.
In der Bibel finden wir dazu Beispiele, etwa bei den Hebammen in Ägypten, die die Neugeborenen der Hebräer umbringen sollten und es nicht taten (2. Mo 1). Oder: Obwohl Esther Haman beschuldigt, tut sie es erst nach einer langen Schweigepause und ohne seinen Namen zu nennen (Esther 7, 3-4). Jesus selbst schweigt, als ihm die Ehebrecherin vorgeführt wird (Joh 8, 1-11) und als er vor Gericht steht (Mt 27, 14).

 

Vermittler

Wenn eine Sache nicht weitergeht, sind Türken es gewohnt, einen Vermittler einzuschalten. Der Vermittler muss hoch angesehen sein, um Erfolg zu haben. Eine andere Art von Vermittler ist die Person, über welche die Informationen in einer Bezugsgruppe laufen. Es kann sich um den Vorsteher einer Organisation handeln oder um den türkischen Ladenbesitzer von nebenan. Dort spricht man, ohne Namensnennung, von einem Problem. Der andere weiß, um wen es sich handelt und gibt das Wort weiter an andere wichtige Vermittler, die dann letztendlich den Betreffenden erreichen ohne dass der sein Gesicht verliert. Diese Vorgehweise gibt es aber nur in einem intakten Beziehungssystem. In der Bibel finden wir das großartigste Beispiel, dass Gott das Problem der Sünde durch den Vermittler Jesus Christus gelöst hat (1.Tim 2, 5-6; Röm 5, 10-11).

Ein Jüngerer nimmt eher Korrektur von einem Älteren («abi») an, der als Vermittler einbezogen wird. Für eine Korrektur ist es ungeheuer wichtig, nach dem Befinden zu fragen, eine Beziehungswärme aufzubauen, Vertrauen zu schaffen, Zeit miteinander zu verbringen. In der Kennenlernzeit darf keine offene Kritik geübt werden, sondern man stellt höchstenfalls Fragen. Wenn man das nicht beachtet, sondern ohne eine echte Beziehung jemanden kritisiert, bricht man die Ehre und den Selbstwert eines Türken («gururunu kirmak»), was schwerer wiegt, als die zu korrigierende Sache.

 

Orientierung 2002-05; 15.02.2000…

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Praktische Tipps

  1. Alle Formen der Konfrontation sollten in kleinstem Kreis stattfinden, um den Gesichtsverlust zu minimieren.
  2. Verstehe die indirekten Methoden der Kultur und ihren Gebrauch in bestimmten Situationen.
  3. Mache dich selbst mit den Geschichten, Parabeln, Fabeln, Legenden und Helden der neuen Kultur bekannt, um passende Dinge in Konfliktsituationen zum Einsatz zu bringen.
  4. Baue eine Vertrauensbeziehung zu einer Person der Kultur auf, die dir helfen kann, das Verhalten richtig auszulegen.
  5. Bitte Gott um Hilfe, die für dich ungewohnten indirekten Konfliktlösungsmethoden anzuwenden.
  6. Gottes Wort gibt den letzten Maßstab, der eine bestimmte kulturelle Form richten darf; Gebet und Diskussion kann nötig sein, bevor man eine bestimmte kulturelle Konfliktlösungsmethode übernehmen kann.