Kultursensible Seelsorge

09.03.2020
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Kultursensible Seelsorge 

Uschi Lautenschlager ist Referentin für Traumaseelsorge bei Wycliff Deutschland. Wir haben sie nach ihren Erfahrungen in Seelsorge mit Orientalen gefragt.

SeelsorgeGibt es kulturelle Unterschiede in der Seelsorge mit Deutschen und Orientalen?

Ja, es ist tatsächlich ratsam, auf die Kultur des Ratsuchenden zu achten. In manchen Kulturen ist es z.B. sehr wichtig, Blickkontakt zu haben, während es in anderen notwendig ist, ihn zu vermeiden.

Mit der Bibel als heiliges Buch sollten wir respektvoll umgehen: keine Bibel mit Unterstreichungen oder Notizen verwenden und sie nicht an einen schmutzigen Ort oder auf den Boden legen.

Bei Gesprächen in einer Gruppe ist darauf zu achten, dass niemand in der Öffentlichkeit sein Gesicht verliert, z.B. niemals jemanden drängen, sich mitzuteilen.

Biblische Personen wie Abraham, Mose, Josef, David, Hiob und Jesus können sehr gut als Beispiele verwandt werden, da ihre Geschichten auch im Koran erzählt werden. Nehmen wir z.B. Josef.

Anhand seines Lebens wird beleuchtet, dass …

  • wir traurig sein und weinen dürfen: „Dann lief er schnell hinaus. Er war den Tränen nahe, so sehr bewegte ihn das Wiedersehen mit seinem Bruder. Er eilte in sein Privatzimmer, um sich dort auszuweinen.“ (1. Mose 43,30)
  • Gott Ehre wiederherstellt, wenn Menschen, die ihm vertrauen, beschämt wurden. Josef musste Dinge ertragen, die in seiner Kultur als entehrend galten: er wurde als Sklave verkauft, eines sexuellen Übergriffs beschuldigt und ins Gefängnis geworfen. Aber Gott richtete ihn wieder auf und machte ihn sogar zum zweitmächtigsten Mann im Staat.
  • wir auch ohne Entschuldigung vergeben sollten. Oft sind wir erst bereit, jemandem zu vergeben, wenn er sich bei uns entschuldigt hat. Josef vergab aber seinen Brüdern, obwohl sie sich nicht bei ihm entschuldigt hatten. (1. Mose 45,4–7)

Das Konzept der Scham- und Schuldkultur hilft wesentlich, die Probleme der Ratsuchenden besser zu verstehen. Aber der Weg des Heilungsprozesses nach einem schwerwiegenden Ereignis bleibt für alle Kulturen der gleiche.

Darf „Schuld“ oder „Scham“ Thema in der Seelsorge sein? Oder wird der Ratsuchende dann sein Gesicht verlieren?

Ob Scham oder Schuld ans Licht gebracht wird, das Gesicht verliert man m. E. in beiden Fällen. Als Beratende sollten wir Schuld nicht verharmlosen, um die Ehre des Gegenübers zu retten. Trotzdem können wir ihm Wertschätzung und geschwisterliche Liebe zeigen und, noch viel besser, ihm dazu verhelfen, seine Scham und Schuld bei Gott abzugeben, der Befreiung und Vergebung schenkt und Ehre wiederherstellt.

Wie offen bzw. wie direkt darf man sein?

Wenn ein verletzter Mensch über seine schmerzhaften Erfahrungen reden möchte, ist es zunächst wichtig, ihn einfach erzählen zu lassen. Wir hören nur aufmerksam zu und tragen den Schmerz mit. Hilfreich ist, wenn wir zwischendurch mit eigenen Worten wiederholen, was wir verstanden haben, einschließlich der Gefühle, die wir wahrgenommen haben. So kann der Erzählende korrigieren, was wir eventuell falsch verstanden haben. Neugieriges Nachbohren sollten wir vermeiden.

Angesichts schwerer Lebensgeschichten – darf man ansprechen, was Gott durch Leid bewirken kann?

Ich würde nicht in jeder Situation darüber reden, dass Gott durch Leid auch etwas Gutes bewirken kann, aber mit Fingerspitzengefühl kann man durchaus darauf aufmerksam machen, dass …

  • Gott uns in unserem Leid tröstet und wir dadurch lernen, andere zu trösten. (2. Kor 1,4)
  • Gott zu seinem Ziel kommt, trotz böser Absichten der Menschen. Zum Beispiel wurde Josef von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft, aber Gott gebrauchte diese Situation, um die Israeliten in der Hungersnot zu retten. (1. Mose 50,18–20)
  • Leiden unseren Glauben stärkt. (Röm 5,3–5; Jak 1,2–4; Ps 119,71)

Zahra ist ein zeitnahes Beispiel dafür, wie jemand durch Leid Segen erleben kann: Sie war Teil einer Traumabewältigungsgruppe in ihrer Stadt im Mittleren Osten. Kürzlich fand die Abschlussfeier der Gruppentreffen statt. Während der Feier stand Zahra kurz entschlossen auf und sagte überraschend die unvergesslichen Worte:

„Mein Herz war voller Schreckensbilder und es war dem Explodieren nahe. Aber über all die schmerzhaften Erinnerungen zu sprechen, half, die Spannung in meinem Inneren zu lösen. Ich fühlte mich danach so ruhig, entspannt und in Frieden. Jetzt danke ich ISIS, denn ohne sie hätte ich euch nicht getroffen und mein Leben hätte sich nicht so verändert, wie es jetzt der Fall ist.“

 

Wo brauchen Muslime besonderen Zuspruch?

Zwei Dinge kommen mir spontan in den Sinn. Zum einen brauchen sie Zuspruch, zu ihren Gefühlen zu stehen und sie nicht zu verdrängen. Denn Gott hat uns so geschaffen, dass wir weinen können, wenn wir traurig sind. Beim Weinen lassen wir den Schmerz raus. Es kann ein wichtiger Bestandteil der Schmerzverarbeitung sein, sowohl für Frauen als auch für Männer. Auch König David weinte (Ps 39,12; 42,3), ebenso die Propheten. (Jes 22,4; Jer 9,1)

Zum anderen brauchen Menschen aus schamorientierten Wir-Kulturen Zuspruch, sich anderen gegenüber zu öffnen. Die große Lüge der Scham ist: Ich bin der Einzige, der so ein tiefes, dunkles Geheimnis hat. Man befürchtet, dass man abgelehnt wird, wenn man es anderen erzählt und dass der innere Schmerz durch die Einsamkeit noch größer werden wird.

Wer den Mut findet, sein beschämendes Geheimnis einer vertrauenswürdigen Person zu erzählen, die gut zuhören kann, erlebt jedoch eine Überraschung: Das Schamgefühl lässt nach und die Beziehungen vertiefen sich. Das Aufdecken unserer schamhaften Geheimnisse hat eine heilsame Wirkung: „Bekennt einander also eure Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet.“ (Jak 5,16a)

Sollte erwähnt werden, dass wir Vertraulichkeit garantieren können? Wenn sie aus diktatorischen Ländern kommen, haben sie Angst, das Erzählte könnte gegen sie verwandt werden, falls sie einmal wieder in ihr Land zurückkehren.

Ja, dass wir auch als Laien-Berater unter der Schweigepflicht stehen, sollten wir auf jeden Fall erwähnen, schon allein, um Misstrauen abzubauen. Auch bei den Gesprächsgruppen darf nur mitmachen, wer sich dazu verpflichtet, die Informationen über andere Gruppenmitglieder nicht weiterzugeben.

 

Erschienen in Orientierung: M #magazin 1/2020. Der Artikel darf kopiert werden. Bitte geben Sie als Quelle „Orientierung: M e.V.“ an und informieren Sie uns über die Verwendung des Artikels.