Der „Gebieter“ der Gebote

Stichwort „10 Gebote“: was fällt Ihnen dazu ein? Wahrscheinlich vor allem: „Du sollst nicht…!“ (8 Verbote) – und „Du sollst…!“ (2 Befehle). Aber ist das wirklich das Wichtigste?

Lesen wir einmal in der Bibel, in 2. Mose 20,1+2, nach: Vor dem ersten „Du sollst…“ sagt Gott zunächst einmal „Ich“: Und Gott redete alle diese Worte: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe. Du sollst…!“ In den Katechismen, die z. B. für den Konfirmandenunterricht benutzt wurden, wird dieser Satz zum ersten Gebot gezählt – im lutherischen „Kleinen Katechismus“ in der Kurzfassung: „Ich bin der Herr, dein Gott: Du sollst …!“ In dieser Form wird er leicht überlesen – und damit wird oft übersehen, welches Gewicht ihm eigentlich zukommt.

Als Gott am Berg Sinai Seinem Volk die 10 Gebote gibt, spricht Er zu ihnen allen – in „aller Öffentlichkeit“, nicht nur zu seinem Propheten Mose. Alle sollen Ihn kennenlernen. Darum stellt Er sich ihnen allen vor. In dreifacher Weise macht Er sich ihnen bekannt:

 

Der Name

Gott beginnt Sein Reden mit einem betonten „Ich“. Er ist ja im Grunde der Einzige, der wirklich „Ich“ sagen kann – der Leben hat in Sich selber (Joh 5,26), der alles Andere überhaupt erst ins Dasein gerufen hat, von dem alles abhängig ist. – Er, der Übermächtige und Unbegreifliche, nennt uns Seinen Namen, mit dem wir Ihn anrufen und mit dem wir Ihn bezeugen können. Er tritt vor Sein Volk nicht als eine anonyme („namenlose“) Macht, sondern als einer, der Sich „ausweist“: Ich bin der HERR.

Von diesem Namen, der in vielen Bibelübersetzungen mit „der HERR“ wiedergegeben wird, finden wir im hebräischen Text eigentlich nur die Konsonanten JHWH. Es ist unklar, ob er ursprünglich als „Jahwe“ ausgesprochen wurde (mit ziemlicher Sicherheit jedenfalls nicht als „Jehova“). Es ist m. E. auch nicht entscheidend, ob und wie ich den Namen ausspreche. Jesus Christus lehrt uns ja zu sagen: „Unser Vater im Himmel“ (Mt 6,9), und im Heiligen Geist rufen wir: „Abba, lieber Vater“ (Röm 8,15). Entscheidend ist vielmehr: der lebendige Gott hat Sich Seinem Volk im Alten wie im Neuen Testament „vorgestellt“ als eine konkrete „Person“; Er hat Menschen angesprochen, Sich ihnen offenbart – und Er ist ansprechbar als ein persönliches Gegenüber, ob ich nun „HERR“ zu Ihm sage oder „Vater“.

Im Gespräch mit Mose (2. Mose 3,14+15) hatte Gott die Bedeutung Seines Namens ein wenig erläutert: Da sprach Gott zu Mose: Ich bin, der ich bin. … So sollst du zu den Söhnen Israel sagen: Der «Ich bin» hat mich zu euch gesandt. … Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. – Im Namen JHWH klingt das hebräische Zeitwort „sein“ an – im Sinne von „aktiv da sein“. In Seinem Namen verspricht Gott Seine innerlich beteiligte, aktive Anwesenheit.

 

Die Beziehung

Was sich im Namen schon andeutet, wird in der nächsten Selbstaussage Gottes weiter entfaltet: „Ich bin … dein Gott“. Gott geht eine persönliche Beziehung zu Seinem Volk ein. Gewiss ist diese Beziehung anders als „von Mensch zu Mensch“. Die Partner sind zu ungleich. Er ist ja „Elohim“: der Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erde. Aber dieser absolut Unabhängige, der nichts und niemanden braucht, bindet Sich an Menschen, schließt mit ihnen einen Bund – und hält ihnen in einer oft schier unglaublichen Geduld die Treue.

Fast wie ein Kommentar zu dieser Aussage klingt Gottes Wort in Jesaja 43,1: „Aber jetzt, so spricht der HERR, der dich geschaffen, Jakob, und der dich gebildet hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“

 

 

Die Befreiung

Mit einer dritten Aussage entfaltet Gott nun, wie denn Sein Name zu verstehen ist, und was es bedeutet, dass Er Sich an Menschen bindet: „der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Sklavenhaus herausgeführt habe“.

Ägypten bedeutete für Israel damals nicht nur Unfreiheit und Zwang zu harter Arbeit. Das ganze Volk sollte ausgelöscht werden. Denn der Pharao hatte den hebräischen Hebammen befohlen: „Wenn ihr … bei der Entbindung seht, dass es ein Sohn ist, dann tötet ihn!“ (2. Mose 1,15f) Aus diesem Elend und aus dieser Gefahr hatte Gott Sein Volk herausgerettet. Daran erinnert Er sie, als Er am Sinai den Bund mit ihnen schließt. Damit will Er ihnen aber nicht nur zeigen, wie viel sie Ihm zu verdanken haben. Vielmehr sollen sie in Seinem Handeln erkennen, wer der HERR, Ihr Gott wirklich ist und wie Er zu ihnen steht. Sein Mitgefühl, Sein Erbarmen, Seine Macht und Sein Wille, sie zu erretten, sollen ihnen immer vor Augen sein. Die Befreiung aus dem Sklavenhaus ist sozusagen „Gottes Name in Aktion“ – denn darin zeigt Er Sich in Seinem Wesen.

In einer Passahnacht, in der ja das Volk Israel die Befreiung aus Ägypten jedes Jahr wieder feiert, wurde auch der Neue Bund Gottes mit den Menschen geschlossen. Im Neuen Bund geht es ebenfalls um Befreiung: Jesus Christus gibt Sein Leben hin, damit Menschen von der Last und der versklavenden Macht der Sünde befreit werden. – „Ich bin gekommen, damit sie Leben haben und es in Überfluss haben.“ (Joh 10,10)

 

Das Geschenk vor den Geboten

Wiegt die kurze „Präambel“ zu den 10 Geboten nicht schwerer als alle Gebote zusammen? Dass Gott sich in solcher Weise uns zuwendet, können wir uns mit nichts verdienen. Das ist Sein Geschenk, das Er auch heute allen Menschen in Jesus Christus anbietet. Erst auf der Grundlage dessen, was Gott für Sein Volk getan hat, gibt Er ihm Seine Lebensregeln. Er fordert nichts von uns, ohne uns zuvor unvorstellbar viel geschenkt zu haben: Sich selber, Seine ganze Zuwendung, Sein ganzes Erbarmen.

Wer Gott so kennengelernt hat, für den bekommen die Gebote einen völlig anderen Klang: Wenn Gott mein Befreier geworden ist, der mir ewiges Leben geschenkt hat: wie sollte ich dann andere Götter haben wollen neben Ihm? – Was sollte es mir bringen, mir ein Götterbild zu machen, um mich davor niederzuwerfen? Gott ist doch viel größer ist als jedes denkbare Bild; Er ist der Lebendige und nicht eine tote Statue oder dergleichen… – Wie sollte ich mit dem Namen dieses meines Gottes in irgendeiner Weise Missbrauch treiben wollen? Mit diesem Namen hat Er Sich doch mir als mein Erlöser offenbart, und mit Seinem Namen darf ich Ihn anrufen! …

Weil wir Menschen aber kurzsichtig, vergesslich und verführbar sind, brauchen wir auch die Mahnungen und Warnungen: „Du sollst …!“ und „Du sollst nicht…!“ – Weil wir von Natur aus weit weg von Gott sind, brauchen wir die Gebote, um zu erkennen, wo wir uns vor Ihm schuldig machen – damit wir begreifen, dass wir zu Ihm umkehren müssen.

 

Wenn wir aber mit Gott unterwegs sind, empfinden wir Seine Gebote nicht als Einengung und unerträgliche Last. So wenig wie jemand, der über eine schöne, aber nicht ungefährliche Bergstraße fährt, die Leitplanken als „Einengung“ empfindet. Zwar wünscht er sich vielleicht manchmal, die Straße wäre etwas breiter. Aber er weiß: ‚die Leitplanken sind mein Schutz; sie helfen mir, mich zu orientieren und können mich vor dem Absturz in die Tiefe bewahren. Es macht Freude, auf dieser Straße zu fahren – und warum sollte ich diese Freude und mein ganzes Leben zerstören, indem ich mir die „Freiheit“ nehme, die Leitplanken zu durchbrechen?!‘

 

Orientierung 2011-04; 01.09.2011