Der Evangelist Johannes berichtet in seinem Evangelium über eine ganze Reihe von Gesprächen, die Jesus mit Einzelpersonen und in der Öffentlichkeit geführt hat. So unterschiedlich die Gesprächssituationen sind, so unterschiedlich ist auch der Verlauf der Gespräche. Dennoch fallen einige Gemeinsamkeiten auf.
„Jesus antwortete…“
Gewiss können wir nicht davon ausgehen, dass Johannes die Gespräche wörtlich „protokolliert“ hat. Wir müssen damit rechnen, dass einiges weggelassen, vielleicht gezielt nur das Wichtigste berichtet wurde. Jedenfalls entsteht der Eindruck, dass Jesus auf manche Fragen eigentlich keine Antwort gibt. Eine Frau aus Samaria fragt ihn: „Wie bittest du, der du ein Jude bist, von mir zu trinken, die ich eine samaritische Frau bin?“ – und Jesus „antwortet“: „Wenn du die Gabe Gottes kenntest und wüsstest, wer es ist, der zu dir spricht: Gib mir zu trinken! so hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ (Joh 4,9+10) Als die Frau daraufhin gleich zwei Fragen stellt: „Woher hast du denn das lebendige Wasser? Du bist doch nicht größer als unser Vater Jakob, der uns den Brunnen gab…?“, erklärt Jesus weder, woher er lebendiges Wasser schöpfen kann, noch ob er größer ist als der Erzvater Jakob, sondern sagt: „Jeden, der von diesem Wasser trinkt, wird wieder dürsten…“ (V. 11-13).
Nach der wunderbaren Speisung von mehr als fünftausend Personen suchen die Menschen Jesus. Johannes berichtet: „und als sie ihn jenseits des Sees gefunden hatten, sprachen sie zu ihm: Rabbi, wann bist du hierhergekommen? Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr sucht mich, nicht weil ihr Zeichen gesehen, sondern weil ihr von den Broten gegessen habt und gesättigt worden seid.“ (Kap. 6,25f) – Das ist doch keine Antwort auf die Frage!
Ähnlich in Kapitel 12,34f: „Die Volksmenge antwortete ihm nun: Wir haben aus dem Gesetz gehört, dass der Christus bleibe in Ewigkeit, und wie sagst du, dass der Sohn des Menschen erhöht werden müsse? Wer ist dieser, der Sohn des Menschen? – Da sprach Jesus zu ihnen: Noch eine kleine Zeit ist das Licht unter euch. Wandelt, während ihr das Licht habt, damit nicht Finsternis euch ergreife!“ – Auch hier wieder: zwei Fragen und eine Antwort, die auf keine der beiden Fragen eingeht.
Im Gespräch mit Nikodemus scheint Jesus die Aussage: „Wir wissen, dass du ein von Gott gekommener Lehrer bist…“ bewusst beiseite zu schieben, um gleich zu seinem Thema zu kommen: „Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, …“ (Joh 3,2+3)
Johannes macht deutlich: Jesus ist kein sklavischer Fragenbeantworter. Er lässt sich nicht von anderen das Thema vorgeben. Er selber lenkt das Gespräch! Wenn Johannes trotzdem immer wieder schreibt: „Jesus antwortete…“, kann das bedeuten: auch wenn Jesus vordergründig auf manche Fragen keine Antwort gab, ging er doch auf das ein, was die Person, mit der er im Gespräch war, eigentlich beschäftigte. Auch wenn er das Thema bestimmte, ließ er nicht einfach „seine Platte abspielen“, sondern sprach das an, was für seine Zuhörer lebenswichtig war.
„Ich bin …“
Was sind nun die Themen, die Jesus ganz gezielt anspricht? – Wenn man die einzelnen Gespräche genauer betrachtet, ist erstaunlich, dass Jesus anscheinend immer ein und dasselbe Thema und Ziel hat: seinen Gesprächspartnern zu zeigen, wer er selber ist und für sie sein will.
Einem Nikodemus sagt er: „wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, so muss der Sohn des Menschen erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben habe.“ (Kap. 3,15)
Der Samariterin: „wer von dem Wasser trinken wird, das ich ihm geben werde, den wird nicht dürsten in Ewigkeit; sondern das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm eine Quelle Wassers werden, das ins ewige Leben quillt.“ (Kap. 4,14)
Nachdem Jesus am Teich Bethesda einen Kranken geheilt hatte, „verfolgten die Juden Jesus, weil er dies am Sabbat getan hatte.“ Jesus diskutierte nun nicht mit ihnen über das Thema „Sabbat“, sondern antwortete: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und ich wirke“ – was noch mehr Hass hervorrief, „weil er nicht allein den Sabbat aufhob, sondern auch Gott seinen eigenen Vater nannte und sich so selbst Gott gleich machte.“ Diesen Leuten machte er die Zusage: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist aus dem Tod in das Leben übergegangen.“ (Kap. 5,16-24)
Den Leuten, mit denen er über das wahre Lebensbrot sprach, sagte er: „Ich bin das Brot des Lebens: Wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr dürsten.“ (Kap. 6,35) – In den folgenden Kapiteln lässt sich noch manches Ähnliche entdecken (z. B. 7,37; 8,12).
Immer wieder spricht Jesus von diesem einen (Doppel-)Thema: wer er selber ist und dass er denen, die an ihn glauben, das ewige Leben schenken will. – Deshalb (so verstehen wir jetzt vielleicht besser) gibt er auf manche Fragen keine Antwort, deshalb geht er über verschiedene Themen einfach zu seiner „Tagesordnung“ über.
Von Jesus lernen
Wenn wir von Jesus und seiner Art, Gespräche zu führen, lernen wollen, dann am besten diese liebevolle „Sturheit“, dieses Beiseiteschieben von Nebensächlichkeiten, um auf das Lebensnotwendige zu kommen, diese Konzentration auf das eine Ziel: Menschen mit dem Einen bekannt zu machen, der Sündern die Versöhnung mit dem heiligen Gott ermöglicht und ihnen ewiges Leben schenkt.
Dann reden wir nicht als Leute, die besser Bescheid wissen oder die sich einbilden, besser (religiöser) zu sein, sondern als Menschen, die Gott in Seiner Gnade reich beschenkt hat. Die Freude und Begeisterung über diese Tatsache erleben wir oftmals, während wir mit anderen darüber reden. Wir dürfen aber auch füreinander und für uns selber darum bitten, dass Gott uns die Freude und die richtigen Worte gibt, „das Geheimnis des Evangeliums bekanntzumachen“ (Eph 6,18f).
Sicher: Wir sollen bereit sein zu antworten – besonders wenn wir nach unserer Hoffnung gefragt werden (1. Petr 3,15f), aber auch wir müssen keine sklavischen Fragenbeantworter sein. Vielleicht dürfen wir sogar auf manche Fragen – auch von Muslimen – keine Antwort geben, weil es Wichtigeres zu sagen gibt – und das mit ganzem Nachdruck, ganzer Freude, mit ganzem Engagement.
Orientierung 2012-04; 12.09.2012
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