Muslime als Asylanten in Abessinien

Die Geschichte mit dem Stock und der Linie auf der Erde haben wir in Gesprächen mit Muslimen einige Male gehört – eine nette Geschichte, wie es scheint, voller Toleranz und Harmonie. Um des Zusammenhangs willen müssen wir aber ein wenig ausholen:

Ibn Ishaq (Das Leben des Propheten, Aus dem Arabischen übertragen und bearbeitet von Gernot Rotter, Stuttgart 1988) erzählt in seiner Beschreibung des Lebens Mohammeds: Mohammed musste mit ansehen, wie die junge muslimische Gemeinde in Mekka immer stärker werdenden Widerstand erfuhr und besonders von den Stammesangehörigen Mohammeds, den Quraisch, verfolgt wurde. Während Mohammed selber durch seinen Onkel Abu Talib geschützt wurde, gerieten einige seiner Anhänger unter unerträglichen Druck. Darum riet ihnen Mohammed, für eine Zeit in das christliche Abessinien auszuwandern und sich unter den Schutz des dortigen Königs, des Negus, zu stellen. 83 Männer mit ihren Familien folgten diesem Rat und begaben sich im Jahr 615 nach Abessinien. Sie wurden dort freundlich aufgenommen und durften auch ihre Religion frei ausüben. Die Quraisch schickten jedoch zwei Gesandte mit Geschenken nach Abessinien. Sie sollten zuerst mit den Feldherren des Königs sprechen, um diese für ihren Plan zu gewinnen: Die Feldherren sollten sich vor dem König dafür einsetzen, auf die Bitte der Gesandten hin die Flüchtlinge nach Mekka zurückzuschicken, ohne die Muslime selber vorher anzuhören. Ihre Anschuldigungen richteten sich vor allem gegen die Religion der Schutzsuchenden. Der Negus weigerte sich allerdings, Menschen, die sich seinem Schutz anvertraut hatten, auszuweisen, ohne sie selber angehört zu haben. Vor dem Negus und seinen Bischöfen erklärten die Muslime, wie sie früher in Unwissenheit, Götzendienst und vielen moralischen Verfehlungen gelebt hätten, bis Mohammed kam, sie aufrief, die Einheit Gottes zu bekennen, Ihm allein zu dienen, für verboten zu achten, was Gott verbietet, und für erlaubt, was Er ihnen erlaubte. Unter anderem rezitierten sie Texte aus der 19. Sure (Maryam), in der sehr viel Positives über Jesus gesagt wird – z. B. dass er schon als Säugling zu den Menschen geredet habe (19,27-33). Der Negus und die abessinischen Bischöfe waren davon sehr berührt und meinten: „Diese Worte entspringen der Quelle, der die Worte unseres Herrn Jesus Christus entsprangen.“ (zitiert nach Mohammed Hussain Haikal, Das Leben Mohammeds (s.a.s), Seite 106) Die Muslime den Mekkanern auszuliefern, kam deshalb für die Abessinier nicht in Frage. Die mekkanischen Gesandten gaben aber noch nicht auf. Am nächsten Tag versuchten sie, den Negus umzustimmen, indem sie die Muslime anklagten, falsche Aussagen über Jesus Christus zu verbreiten. Der Negus befragte wieder die Muslime, und ihr Sprecher antwortete ihm: „Wir sagen über ihn, was unser Prophet uns geoffenbart hat, nämlich dass er der Diener Gottes sei, sein Prophet, sein Geist und sein Wort ist, das Er der Jungfrau Maria eingegeben hatte.“ (Rotter, S. 68) – Diese Aussagen finden sich auch in der (wahrscheinlich erst später offenbarten) Sure 4,171 – dort allerdings verbunden mit der Warnung an die „Leute des Buches“, es in ihrer Religion nicht zu übertreiben und von Gott nicht zu sagen, „dass er ein Kind habe“. Die Übersetzung Rotters berichtet daraufhin: „Der Negus nahm einen Stock vom Boden auf und sprach: ‚Wahrlich, Jesus ist nicht um die Länge dieses Stockes mehr als das, was du sagst.‘“ – Die geläufigere Version der Geschichte ist aber: Daraufhin nahm der Negus einen Stock, zog eine Linie auf der Erde und sprach zu den Muslimen: „Zwischen eurer und unserer Religion ist nicht mehr als diese Linie“.

(vgl. z. B. M. H. Haikal, S. 106; Melanie Miehl, Mohammed, Gütersloh 2000, S. 48f)

Die mekkanischen Gesandten erhielten ihre Geschenke zurück und mussten das Land verlassen, die Muslime durften unter dem Schutz des Königs in Abessinien bleiben. Einige von ihnen kehrten nach Mekka zurück, nachdem sie (fälschlicherweise) gehört hatten, die Situation der Muslime habe sich dort wesentlich gebessert; andere sollen bis nach der Hidschra, der Auswanderung der Muslime nach Medina (622), in Abessinien geblieben sein. Das Verhalten des abessinischen Königs erscheint bis heute als vorbildlich: er gewährte Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt wurden, Asyl und ermöglichte ihnen, ihre Religion in Freiheit auszuüben – auch ließ er sich nicht durch Geschenke bestechen, sondern überprüfte, ob Anschuldigungen tatsächlich zutreffen.

Die theologische Auseinandersetzung mit den muslimischen Aussagen über Jesus Christus war allerdings leider nicht gründlich genug. Eine solche Auseinandersetzung ist jedoch für Christen immer wieder nötig – nicht nur, um Ähnlichkeiten und Unterschiede im Vergleich zum Islam deutlich zu erkennen, sondern auch, um sich des eigenen Glaubens klarer bewusst zu werden – und um zu erkennen, ob, warum und in welcher Weise Christen Muslimen das Zeugnis vom biblischen Jesus Christus schuldig sind.

Weil das damals anscheinend versäumt wurde, kann heute von islamischer Seite Christen gegenüber – unter Berufung auf einen Christen! – ein doppelter Irrtum weitergegeben werden:

1) die islamischen Aussagen über Jesus Christus seien den biblischen so ähnlich, dass die Unterschiede gar nicht ins Gewicht fallen – und

2) aufgrund dieser Tatsache sei ein Zusammenleben in gegenseitiger Toleranz gar kein Problem.

In Wirklichkeit sind jedoch 1) die Unterschiede „zwischen eurer und unserer Religion“ – auch aus islamischer Sicht! – offensichtlich absolut keine Kleinigkeit. Gerade die islamische Reaktion auf das Bekenntnis: „Christus ist Gottes Sohn“ (wie sehr es auch von vielen Muslimen missverstanden wird) offenbart, wie tief der Graben zwischen Islam und biblischem Glauben an Jesus Christus tatsächlich ist. Der Koran kann darauf nur mit der Verwünschung: „Gott bekämpfe sie!“ (Sure 9,30) antworten.

3) Muslime ließen sich in Abessinien anscheinend gerne sagen: „Zwischen eurer und unserer Religion ist nicht mehr als diese Linie“; in ihrer Notlage nahmen sie die Toleranz und den Schutz des abessinischen Königs in Anspruch. Das hinderte die muslimische Gemeinschaft jedoch später nicht, wenn Christen unter islamische Herrschaft kamen, nach Sure 9,29 von ihnen zu fordern, dass sie entweder zum Islam konvertieren oder „von dem, was ihre Hand besitzt, Tribut entrichten als Erniedrigte“ (Übersetzung von Khoury).

So bekommt die liebliche Geschichte mit dem Stock und der Linie auf der Erde leider einen sehr bitteren Beigeschmack. – Auch darüber müsste in einem ehrlichen christlich-islamischen Dialog gesprochen werden.

Die Lehren, die Christen aus dieser Geschichte ziehen sollten:

1) Um unseres Herrn und des Evangeliums willen sind wir (entsprechend dem Vorbild des abbessinischen Königs) nach wie vor verpflichtet, politisch und religiös Verfolgten, auch Muslimen, Schutz zu gewähren.

2) Um unseres Herrn und des Evangeliums willen sollten wir klar erkennen und deutlich bezeugen, dass der Jesus Christus, wie ihn der Islam beschreibt, nicht der Jesus Christus des Neuen Testaments ist.

3) Die christliche Gemeinde ist deshalb auch Muslimen das biblische Zeugnis von Jesus Christus schuldig.

4) Es ist eine Illusion, wenn Christen meinen, von Seiten des Islam – etwa als Antwort auf „christliche Toleranz“ – religiöse und politische Toleranz erwarten zu können. Das darf uns aber nicht daran hindern, Religionsfreiheit zu gewähren – und auch einzufordern.

 

Orientierung 2010-04; 25.09.2010

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