Vorbemerkungen
Muslime glauben normalerweise, dass der Araber Mohammed Ben Abdullah im Alter von ca. 40 Jahren, d. h. etwa im Jahr 610 n. Chr., in einer bestimmten Nacht des Monats Ramadan („Nacht der Bestimmung“, Sure 97,1) in einer Höhle in der Nähe seiner Heimatstadt Mekka zum Propheten und Gesandten Allahs berufen worden sei. Er sei das „Siegel der Propheten“ (Sure 33,40), der eine lange Reihe von vorausgehenden Propheten und Gesandten abschließt. Diese muslimische Überzeugung hat von christlicher Seite immer Widerspruch erfahren. Da Jesus Christus der endzeitliche und abschließende Erlöser ist (Hebr.1,1-4), können Christen Mohammed nicht als Gesandten Gottes anerkennen. Was geschah bei der „Berufung Mohammeds“, sofern es sich dabei überhaupt um ein geschichtliches Ereignis handelt? Darüber gibt es verständlicherweise nur muslimische Quellen. Zunächst sind die Aussagen des Koran heranzuziehen. Diese werden aber nur verständlich, wenn man sie in Beziehung zu einer „Biographie Mohammeds“ setzt, wie sie von den islamischen Traditionen (Hadith) erzählt wird. Die großen Hadith-Sammlungen sind die zweite Quelle, wenn es um die Berufung Mohammeds geht, aber sie sind in ihrem historischen Wert mehr als fragwürdig und widersprechen teilweise erheblich den koranischen Texten. Jede Darstellung der Berufung Mohammeds bewegt sich deshalb auf „schwankendem Boden“. Dennoch hat sich im Islam im Laufe der Geschichte folgende Darstellung durchgesetzt, wie sie sich z. B. in dem zeitgenössischen Lehrbuch von Mohammed Hamidullah (2. Aufl. Köln 2003, S.9) findet: „Im fünften Jahre seiner jährlichen Zurückgezogenheit wurde er vierzig Jahre alt. Gegen Ende des Monats erhielt er während der Nacht den Besuch eines Engels. Dieser teilte ihm mit, dass Gott ihn zu seinem Boten auserwählt und zu den Menschen gesandt habe; er lehrte ihn die rituelle Waschung, die Art und Weise Gott anzubeten und das Gebet und teilte ihm den göttlichen Auftrag mit folgenden Worten mit…“ (es folgt Sure 96,1-5)
Die koranischen Andeutungen über prophetische Hörerlebnisse
Der Koran erzählt keine Berufung Mohammeds. Er spricht in vielen Variationen und immer recht vage davon, dass eine von Allah angeredete fiktive Person – die nicht mit Namen genannt wird – göttliche Worte empfangen habe. Einen „Erstempfang“, also eine eigentliche Berufung zum Propheten, kann man nur mit Hilfe der Tradition konstruieren. So wird Sure 97,1-5 von den Übersetzern auf den Erstempfang bezogen, obwohl hier im Wortlaut weder von einem Offenbarungstext noch von einem Empfänger die Rede ist: „Wir haben ihn (d. h. den Koran) in der Nacht der Bestimmung hinabgesandt. Aber wie kannst du wissen, was die Nacht der Bestimmung ist? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate. Die Engel und der Geist kommen in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn hinab, lauter Logos(wesen). Sie ist (voller) Heil (und Segen), bis die Morgenröte sichtbar wird“ (Koran nach Paret, 8. Aufl. 2001). Die Parallelstelle 16,2 sagt ganz allgemein: „Er lässt die Engel mit dem Geist von seinem Logos herabkommen, auf wen von seinen Dienern er will…“. In der islamischen Tradition wird oft Sure 96 als erster Offenbarungstext genannt, weil der Empfänger in V.1 und V.3 aufgefordert wird zu rezitieren (vorzutragen). Der Text gibt aber keinen Hinweis darauf, dass es sich um die Berufungsoffenbarung handelt. Für den Offenbarungsvorgang werden im Koran außer „Herabsendung“ (ins Herz des Propheten) andere Ausdrücke genannt: „Einhauchung“, „Inspiration“ (z.B. 53,4 u. 10) und „Belehrung“ (53,5). Der Inspirierende und Belehrende ist aber nach allgemeiner Deutung nicht Allah, sondern der Engel Gabriel (z.B. 2,97), dessen Name in Sure 53 allerdings nicht genannt wird: „Gelehrt hat (es) ihn einer, der über große Kräfte verfügt, und dem Festigkeit eigen ist. Er stand aufrecht da, (in der Ferne) ganz oben am Horizont. Hierauf näherte er sich und kam (immer weiter) nach unten und war (schließlich nur noch) zwei Bogenlängen (?) (entfernt) oder (noch) näher (da). Und er gab seinem Diener (d. h. Mohammed) jene Offenbarung ein“ (5-10). Auch hier deutet nichts auf den Erstempfang hin.
Die Darstellung der Erstoffenbarung in der Tradition
In den vielfältigen Überlieferungen über Mohammed werden die dürftigen Andeutungen des Koran zu umfangreichen Erzählungen ausgeschmückt. Die folgenden Zitate stammen aus der Mohammed-Biographie von Abd al-Malik Ibn Hischam nach Mohammed Ibn Ishaq, Das Leben Mohammeds, aus dem Arabischen übersetzt von Dr. Gustav Weil, bearbeitet und ergänzt von Abd al-Masih, Villach 1992 (Bd. I: Der verfolgte Prophet in Mekka, S.58-60):
„‚Ich schlief‘, erzählte Mohammed, ‚als er (der Engel Gabriel) mir ein beschriebenes, seidenes Tuch brachte und sagte: ‚Lies!‘ Ich erwiderte: ‚Ich kann nicht lesen!‘ Da drückte er mich in das Tuch, dass ich glaubte, ich müsste sterben. Dann ließ er mich los und forderte mich erneut auf: ‚Lies!‘ Als ich wieder antwortete, ich könne nicht lesen, bedeckte er mich wieder mit dem Tuch, so dass ich beinahe den Geist aufgab. Dann ließ er mich frei und erneuerte seinen Befehl. Ich fragte nun aus Furcht, er werde mich wieder wie vorher behandeln, was ich lesen solle. Da sagte er: ‚Lies im Namen deines Herrn, der den Menschen aus einem Blutklumpen erschaffen hat, lies, dein Herr ist der Barmherzige, der durch die Feder den Menschen gelehrt hat, was er nicht wusste‘ (al-Alaq 96,1-5). Ich rezitierte nun, und Gabriel verließ mich wieder. Danach erwachte ich, und es war, als stünden diese Worte in mein Herz eingeschrieben. Ich trat aus der Höhle und stand auf der Mitte des Berges. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel, die mir zurief: ‚Mohammed! Du bist der Gesandte Allahs und ich bin Gabriel.‘ Ich hob mein Haupt gegen den Himmel empor, um nach dem Sprechenden zu sehen, und ich sah Gabriel in der Gestalt eines beflügelten Mannes. Seine Füße waren am Horizont und er rief: ‚Mohammed! Du bist der Gesandte Allahs und ich bin Gabriel.‘“
Deutungsmöglichkeiten
In den Überlieferungen wird erzählt, dass Mohammed von der Erstbegegnung mit dem Engel verwirrt gewesen sei. Entsprechend schreibt Hamidullah in seinem Lehrbuch: „Erschüttert kehrte Mohammed nach Hause zurück und erzählte seiner Gattin, was er soeben erfahren hatte; er befürchtete, dass es sich nur um irgendeine Teufelei oder um eine Besitzergreifung durch böse Geister handeln könne. Sie tröstete ihn mit dem Hinweis darauf, dass er stets mildtätig und großmütig gewesen sei, den Armen, den Waisen, den Witwen und all denen geholfen habe, die dieser Hilfe bedürften, und dass Gott ihn deshalb gegen alles Böse schützen werde.“
Die Erwähnung der Angst vor Besessenheit und ihre Zurückweisung nimmt auf den Koran Bezug, denn nach ihm unterstellten die mekkanischen Kritiker des Offenbarungsempfängers ihm Besessenheit (15,6). Dieser Vorwurf wurde sehr früh von den christlichen Kritikern Mohammeds übernommen und durch die ganze Kirchengeschichte hindurch bis heute von Christen vertreten. Es gibt andere Möglichkeiten einer kritischen Deutung. Es könnte z. B. sein, dass Mohammed ein arabischer Gottsucher war, der sich mit Judentum, Christentum und Manichäismus beschäftigte und darunter litt, dass sein arabisches Volk im 7. Jahrhundert noch weitgehend dem Götzendienst anhing und es keine heilige Schrift auf Arabisch gab. Warum gab es keinen „arabischen Propheten“, der seinem Volk göttliche Offenbarungen in arabischer Sprache brachte? Warum gab es keinen „arabischen Mose“, der die Stämme seines Volkes einte? Vielleicht kamen bei Mohammed religiöse Sehnsüchte und politische Ambitionen von Anfang an zusammen, und vielleicht steigerten sich diese Erwartungen zu der Gewissheit, der von Allah erwählte „arabische Prophet“ zu sein und Allahs Weisungen zu empfangen. Alle Deutungen bleiben deshalb schwierig, weil Mohammed für seine Hörerlebnisse keine Mithörer hatte. Der Islam basiert auf dem Zeugnis eines einzigen Menschen. Im Vergleich zu dieser fragwürdigen Basis des Islam beruht der biblische Glaube auf einem großen und „vielstimmigen Chor“ von Propheten und Aposteln. Sie bezeugen eine lange Geschichte des Handelns und Redens Gottes, die in Kreuz und Auferstehung Jesu Christi gipfelt. Für einen Propheten namens Mohammed ist in dieser Geschichte kein Platz.
Orientierung 2010-03; 10.07.2010
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