Prädestination und freier Wille im Islam

Ist im Islam alles vorherbestimmt? Sind manche Menschen zum Heil (im Islam) und andere zum Unheil vorherbestimmt – und wenn ja, warum besteht dann im Islam die Pflicht zur „Da’wa“, zur Einladung zum Islam? Oder hat der Mensch einen freien Willen, mit dem er sich für oder gegen den Glauben an Allah entscheiden kann? Diese Fragen sind unter muslimischen Theologen schon sehr früh und sehr intensiv diskutiert worden. Grundlage der Diskussion waren einerseits Koranverse zur Allmacht Allahs, denen jedoch andere gegenüberstanden, welche die Menschen zum Erkennen des Schöpfers in der Natur und zur Umkehr mahnen. Lange neigte die Meinung der islamischen Theologie stärker der Auffassung zu, dass alles von Allah vorherbestimmt sei. Aber es hat auch Verfechter der Willensfreiheit gegeben, die sich stärker auf die Koranverse beriefen, die die Verantwortung des Menschen für sein Tun und seinen Glauben in den Vordergrund stellen.

Der Koran

Dass Allah allmächtig ist, der Herr über Tag und Nacht (Sure 73,20), der Schöpfer jedes Menschen und der ganzen Erde und alles durch ihn geschieht, gehört zu den frühesten und grundlegendsten Aussagen des Koran. Allah ruft jeden Menschen ins Leben und bestimmt den Zeitpunkt seines Todes, wenn sein „Termin“ gekommen ist (Sure 63,11). Er lenkt das Weltgeschehen und er zieht jeden Menschen im Jüngsten Gericht für sein Tun zur Verantwortung. Mohammed wendet sich damit im Koran gegen den Schicksalsglauben der vorislamischen arabischen Stämme, die an die Unabänderlichkeit eines festgelegten Schicksals für den Menschen glaubten.

… einerseits

In Bezug auf die Frage der Willensfreiheit sprechen einerseits zahlreiche Koranverse sehr dezidiert davon, dass Allah selbst der Verursacher aller Dinge ist. Er erweist dem Menschen Gutes, aber er bestimmt auch das Unheil. Alles ist bereits in einem Buch niedergeschrieben: „Kein Unheil geschieht, weder auf der Erde noch bei euch, das nicht in einem Buch wäre, noch ehe wir es erschaffen“ (57,22). Allah führt die Menschen und bestimmt ihren Weg. Er lenkt den Willen der Menschen (76,30) und er bringt in ihrem Herzen Glauben oder Unglauben hervor (6,125). Er leitet sie recht (auf den Weg des Islam) oder aber in die Irre (so dass sie als Ungläubige am Ende der Tage in die Hölle geworfen werden) (2,26). Allah selbst hat ihnen dieses Los vorherbestimmt so wie der Frau des Lot: „Wir bestimmten, dass sie zu denen gehören würde, die zurückblieben“ (27,57). Ja, wenn Allah gewollt hätte, wären alle Menschen Muslime geworden, aber dieser Glaube ist nicht allen Menschen bestimmt (10,99-100). Weil es sein Wunsch und Plan war, entstanden außer dem Islam verschiedene andere Religionsgemeinschaften (5,48). Den Ungläubigen legt Allah daher eine „Hülle“ über ihr Herz und in ihre Ohren „Schwerhörigkeit“, so dass sie den Koran nicht verstehen können (17,46). Als Fazit formuliert er: „So führt Gott in die Irre, wen er will und leitet recht, wen er will“ (74,31).

… andererseits

Auf der anderen Seite betont der Koran die Verantwortung jedes Menschen. Jeder Mensch wird sich im Jüngsten Gericht vor Allah verantworten müssen, wenn er nicht auf die Mahnungen der Propheten gehört hat. Der Koran benennt als Gründe für die Abwendung mancher Menschen vom Islam deren „Widerspenstigkeit“ (Sure 4,13-14). Alles, was ein Mensch während seines Lebens getan hat, wird in einem Buch niedergeschrieben, um dann hervorgeholt zu werden (17,4). „Allah verlangt von niemand mehr, als er vermag. Jedem kommt zugute, was er verdient, und über ihn bricht herein, worin er gesündigt hat.“ (2,286). Der Koran löst diese offensichtliche Spannung zwischen der Verantwortung des Menschen und der Allmacht Allahs nicht auf, sondern lässt beides nebeneinander stehen. Einige Koranverse verbinden sogar beide Seiten miteinander: Weil manche Menschen gesündigt haben, indem sie ihre eigenen Vorstellungen zu ihrem Gott erklärten, hat „Allah sie mit Bedacht irregeführt“ (45,23). Ähnlich benennt Sure 18,57 beide Seiten als Verantwortliche: der Mensch entscheidet sich für das Böse und wendet sich von der Botschaft des Islam ab. Zugleich macht Allah ihn unfähig, das Richtige zu hören, selbst wenn ihm weiter der Islam verkündigt wird (vgl. auch 42,13). – Wenn in der Bibel in ähnlicher Weise davon die Rede ist, dass Gott „kräftige Irrtümer“ sendet (2. Thess 2,11f), ist das in der Regel deutlich dargestellt als Gericht dafür, dass Menschen „der Wahrheit nicht geglaubt haben, sondern Lust hatten an der Ungerechtigkeit“ (2. Thess 2,12).

Die Überlieferung

Auch die Überlieferung (hadith) behandelt das Thema der Vorherbestimmung. Sie spricht eindeutiger von der schicksalhaften Vorherbestimmung aller Dinge als der Koran, der stärker auf Allah als den Verursacher all dessen, was geschieht, hinweist. Nicht ein einziger Hadith bejaht die Willensfreiheit des Menschen. Der Hadith berichtet, dass alles Geschehen in der Welt von Allah schon in der Vergangenheit niedergeschrieben wurde. Andere Traditionen sprechen davon, dass die Engel schon vor der Geburt eines Menschen alles für ihn festlegen, seine Geburt, seinen Tod und die Frage seines Glaubens. Es ist gerade dieser Gedanke, dass alles schon vor Beginn des menschlichen Lebens „niedergeschrieben“ wurde (arab. maktub, türk. mektub), der in besonderer Weise Eingang in den Volksislam gefunden hat.

Der Volksislam

Im Volksislam scheint der Fatalismus zu dominieren. Stellt sich eine Schwierigkeit ein oder müssten besondere Anstrengungen unternommen werden. Um eine Situation zum Guten zu wenden, wird manchmal wenig getan. „maktub“ (oder: „mektub“) heißt es dann und soll andeuten, dass alles im Leben vorher festgelegt wurde und dass es sich nicht lohnt, sich gegen dieses oder jenes aufzulehnen oder es abzuwenden. Die im Koran wieder und wieder geforderte Unterwerfung des Menschen unter den Willen Allahs, der den Menschen in ihrem Leben Prüfungen auferlegt, geht manchmal nahtlos in eine Schicksalsergebenheit über, die auch zu Passivität und Gleichgültigkeit führen kann.

Fazit

Die unterschiedlichen Koranverse zur Vorherbestimmung und Willensfreiheit spiegeln Mohammeds eigene Situation wider. Er wendet sich mit seiner Botschaft des Islam gegen den Schicksalsglauben seiner Landsleute, muss sich aber auch die anhaltende Verstocktheit vor allem der Mekkaner gegenüber seinen Verkündigungen erklären. So bezieht er nach mehreren Jahren der wenig erfolgreichen Predigt in seiner Heimatstadt Mekka die Vorherbestimmung aller Dinge als Begründung mit ein. Während schon das Alte Testament vielfach berichtet, dass Gott dem Menschen die Freiheit zugesteht, sich mit seinen Zweifeln, Fragen, ja sogar mit seinen Anklagen an ihn zu wenden (vgl. die Klagepsalmen oder das Buch Hiob), verlangt der Islam vor allem die Unterwerfung des Menschen unter den Allmächtigen und Unerforschlichen, die die Gesellschaft in vielen Bereichen tief prägt. Ergebung ohne die Möglichkeit, Zweifel und Fragen zu äußern, kann sehr leicht in passiven Fatalismus umschlagen.

 

Orientierung 2006-03; 15.0.2002

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