Der große Rahmen der Weltgeschichte scheint in Koran und Bibel gleich zu sein: Gott steht als der Schöpfer am Anfang der Geschichte und Er wird als der Richter auch an ihrem Ende (an der Schwelle zur jenseitigen Ewigkeit) stehen. Ebenso lehren Christentum und Islam gemeinsam, dass Gott immer wieder in die Geschichte eingreift und durch Propheten zu den Menschen geredet hat. – Reichen diese Übereinstimmungen aus, um den Schluss zu ziehen, dass Islam und Christentum das gleiche Geschichtsbild haben?
Das Zentrum der Geschichte
Im Mittelpunkt des biblischen Geschichtsbildes steht Gottes Rettungsaktion: Er hat Jesus Christus gesandt, damit dieser durch sein stellvertretendes Leiden und Sterben am Kreuz die Schuld aller Menschen wegtragen und sie von der Macht der Sünde befreien sollte. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments ist also das Gericht über die Sünde schon vollzogen. Auf dieser Grundlage bietet Gott allen Menschen Vergebung, Versöhnung und Gotteskindschaft an durch den Glauben an Jesus Christus. – Geschichte in biblischem Sinn ist damit „Heilsgeschichte“. Gott handelt, damit alles wieder heil werden kann. Im Koran findet sich kein vergleichbares zentrales Heilsereignis. Kreuz und Auferstehung Jesu Christi als Zentrum der biblischen Heilsgeschichte werden geleugnet. Im Grunde kennt der Islam also keine „Heilsgeschichte“.
Der Anfang der Menschheitsgeschichte
Dem entspricht auch, was der Koran über die Anfänge der Geschichte zu sagen weiß: Von der Erschaffung des Menschen ist oft die Rede; von einer Bestimmung des Menschen zum „Bild Gottes“ (1. Mose 1, 26+27) und zu einer persönlichen Beziehung zu Gott sagt der Koran jedoch nichts. – Die Geschichte vom Sündenfall kommt in verschiedenen Varianten vor. Aber Adams Sünde war, wie alle Sünden, eine Einzeltat (vgl. Johan Bouman, Christentum und Islam im Vergleich, Das Leben gestalten – den Tod überwinden, Brunnen Verlag, Gießen 1982, S. 45f), kein Sündenfall im biblischen Sinn: Es wird nirgends davon geredet, dass durch die Sünde die Beziehung des Menschen zu Gott so grundlegend gestört ist, dass Versöhnung nötig ist. Der Islam will auch nichts davon wissen, dass Adam selber und alle seine Nachkommen unter die Macht der Sünde geraten sind. Im Islam gibt es keine Erbsünde. Jeder Mensch ist mit seinen Stärken und Schwächen das Werk Allahs; er hat sich immer wieder zwischen dem Willen Allahs und den Einflüsterungen Satans zu entscheiden. Er ist nicht „unter die Sünde verkauft“ (Röm. 7,14) und auf Gottes erlösendes Eingreifen angewiesen. So fehlt im Islam nicht nur die Mitte der biblischen Heilsgeschichte. Es fehlt ebenfalls das Wissen um die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, und folglich wird auch gar keine Notwendigkeit einer „Heilsgeschichte“, eines rettenden Eingreifens Gottes, gesehen.
„Prophetengeschichte“
Während nach der biblischen Darstellung verschiedene heilsgeschichtliche Epochen aufeinander folgen, ist eine solche Vorstellung dem Islam im Grunde fremd. Innerhalb der Zeit zwischen der Erschaffung der Welt und dem Tag des Gerichts bleibt eigentlich alles gleich. Jeder einzelne Mensch und jede Zeit stehen in einem statischen Gegenüber zu dem allmächtigen Gott. Der Islam kennt nicht „eine Geschichte …, die sich entfaltet und entwickelt, sondern die sich einfach wiederholt.“ (CIBEDO-Texte Nr. 5, S. 2.) Am ehesten könnten wir im Islam von einer „Prophetengeschichte“ reden: Weil die Menschen immer wieder von der ursprünglichen Offenbarung abgewichen sind, hat Gott in Seiner Gnade ihnen von Zeit zu Zeit Propheten gesandt. Der Auftrag dieser Propheten ist allerdings jeweils derselbe: die Menschen zum Ursprung zurück zu rufen, zum Glauben an den einen Gott, und ihnen das eine göttliche Gesetz zu verkündigen. „Bei jeder prophetischen Verkündigung beginnt die Geschichte der Menschheit sozusagen von neuem …“ (Bouman, Christentum und Islam im Vergleich, S. 47.) Nach islamischem Denken gibt es jedoch einen Höhepunkt in dieser Prophetengeschichte: Mohammed als „Siegel der Propheten“ hat mit dem Koran Gottes vollkommene und abschließende Offenbarung erhalten. Alle vorherigen (z. B. auch Altes und Neues Testament) werden damit abgelöst. – Darum gehören der islamischen Gemeinschaft nun Gegenwart und Zukunft: „Ihr seid die beste Gemeinschaft, die unter Menschen entstanden ist. Ihr gebietet, was recht ist, verbietet, was verwerflich ist, und glaubt an Gott. Wenn die Leute der Schrift ebenfalls glauben würden, wäre es besser für sie. Es gibt Gläubige unter ihnen, aber die meisten sind Frevler.“ (Sure 3,110) Aufgrund dieses Geschichtsverständnisses beansprucht die islamische Gemeinschaft zumindest teilweise die heilsgeschichtliche Rolle, die nach der Bibel dem Volk Israel und der Gemeinde Jesu zukommt. Von dorther erklären sich auch zum Teil die Gegnerschaft und der Herrschaftsanspruch der islamischen Umma gegenüber Juden und Christen.
Das Ende der Geschichte
In allen islamischen Zukunftsvorstellungen finden sich als wesentliche Elemente die Erwartung des Jüngsten Gerichts und der Wiederkunft Jesu als eines wichtigen Vorzeichens. – Was in diesen Endzeiterwartungen nicht vorkommt, ist die Entrückung der Gemeinde Jesu und das Kommen Jesu als Messias Israels. Der wiederkommende Jesus ist im Islam nicht der, dem der Vater alles Gericht übergeben hat (Joh. 5,22; Apg. 17,31). – So unterscheidet sich auch im Blick auf die Zukunft das islamische Geschichtsbild ganz wesentlich vom biblischen.
Biblische Heilsgeschichte und Mission
Auch wenn der Islam der biblischen Geschichtsdarstellung teilweise direkt widerspricht, schließt dennoch die biblische Heilsgeschichte die Muslime mit ein: Gott hat Seinen Sohn für sie gesandt wie auch für uns „als wir noch Feinde waren“ (Röm 5,10). Die biblische Heilsgeschichte muss uns dazu treiben, auch Muslimen die Heilsbotschaft zu verkündigen. Denn in Gottes Augen sind sie – bei aller Religiosität – sündige und verlorene Menschen, die Er durch Jesus Christus retten will. Als Botschafter an Christi Statt sollen wir sie bitten: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5,20) – Und den Gott, der der Herr der Heilsgeschichte ist, dürfen wir bitten, dass Er auch Muslimen die Herzen und das Verständnis öffnet für die frohe Botschaft von der Erlösung durch Jesus Christus.
Orientierung 2001-01; 15.02.2001
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