Nationalismus und Islam

Islam und Nationalismus treten in Geschichte und Gegenwart häufig gemeinsam auf. Worte wie islamistischer Nationalismus und Panturkismus oder Panarabismus gemischt mit Panislamismus versuchen diese Verbindung zu beschreiben. Es ist uns unmöglich, in Kürze in jedem einzelnen Land die Entwicklungen bis heute darzustellen. Deshalb begrenzen wir uns hier auf einige Grundlinien und Ausschnitte.

Ursprünge

Beim Betrachten der Entstehung des islamischen Staates fällt auf, dass Mohammed als Gründer der islamischen Gemeinschaft sowohl religiöses als auch staatliches Oberhaupt war. Mohammed baute an einem einzigen islamisch-arabischen Staatswesen auf der arabischen Halbinsel und kämpfte darum, die rivalisierenden Nomadenstämme und zersplitterten Völker der arabischen Halbinsel zu einer Einheit unter dem Banner des Islam zu verbinden. Nach seinem Vorbild strebten viele spätere islamische Ideologen als Ideal einen einzigen weltumspannenden islamischen Staat an. Im Koran wird andererseits anerkannt, dass Allah viele Nationen mit ihren Eigenheiten geschaffen hat (Sure 49,13), er jedem Volk einen Botschafter sandte (10,47; 4,64; 43,6) und sich jedes Volk vor ihm verantworten muss (45,28; 18,47). Doch mit der Aussage, das Beste aller Völker sei das islamische Volk (3,110), wird ein panislamisches Volk eingeführt, dessen islamische Religion über alle anderen Religionen siegen muss (9,33; 61,9). In den Hadithen gibt es Hinweise, dass Mohammed das Stammesdenken und den Nationalismus bekämpfte, da sie ihm für die Ausbreitung des Islams hinderlich schienen.

Großislamische Reiche und ihre Zerschlagung

Da Mohammed selbst Araber war und auch seine ersten vier Nachfolger („die rechtgeleiteten Kalifen“ 632-661 n. Chr.) aus dem mekkanischen Araberstamm der Quraisch hervorgingen, führte das zu einer Vorherrschaft des Arabertums innerhalb des Islam. Großislamische Folgereiche herrschten dann als islamische Dynastien über das Erbe Mohammeds: die Umayyaden Kalifen (661-750); die Abbasiden Kalifen (750-1258), die Fatimiden Sultane und Kalifen in Nordafrika (930-1171), die Seldschuken Sultane in Bagdad und Konya (1055-1307) und schließlich die Dynastie der türkischen Osmanen (1288-1922). Diese vereinten einmal mehr, einmal weniger religiöse und weltliche Macht in einem Amt, bestanden zeitweilig nebeneinander und umfassten unterschiedlich große Bereiche der gesamten islamischen Umma. 1924 wurde der letzte islamische Kalif durch Atatürk abgesetzt und das Kalifat abgeschafft. Obwohl Nationalismus von einzelnen muslimischen Staaten mit dem Islam nicht vereinbar scheint, gab es geschichtlich häufig einen nationalistischen, manchmal sogar einen rassistischen Islam. So kommt es, dass es innerhalb der arabischen Völker starke Abneigungen untereinander gibt, ebenso zwischen Arabern und Iranern und zwischen Türken und Arabern. Letzteres lässt sich zum Teil auf die Ausbeutung der Araber durch die osmanischen Türken zurückführen. Dazu kommt die Überzeugung der Araber, ein Kalif solle aus ihrem Volk kommen, insbesondere dem Stamm Mohammeds, den Quraisch. Mit der Ausbreitung des Islam bis nach China, Indonesien und andere weit entfernte Länder war es damals nicht mehr möglich, ein großislamisches Reich aufrechtzuerhalten. Im Zuge des Kolonialismus wurden durch westliche Kolonialmächte unter anderem auch in islamischen Gebieten Kolonien gegründet und Landeinteilungen vorgenommen, die auch nach Ende der Abhängigkeiten weiterbestanden und von den Muslimen der jeweiligen Länder bis auf einige Ausnahmen akzeptiert wurden.

Panislamistischer Nationalismus

Anhänger der „Salafiyya“, die zu den Ursprüngen der islamischen Religion zurückkehren wollen, streben teilweise wieder das Ziel eines panislamischen Einheitsreiches an. Dazu gehören die Muslimbrüder, die sich ganz bewusst gegen einen arabischen Nationalismus wenden. Andere Islamische Nationalisten wie Raschīd Ridā (1865-1935) waren auch Vertreter des Panislamismus. Sie suchen die Vereinigung aller islamischen Völker. Es gibt viele Schattierungen dieser Rückbesinnung. So befürwortete Ridā den Panarabismus. Er war gegen den einzelstaatlichen arabischen Nationalismus und propagierte die Gründung eines unabhängigen arabischen Großstaates, was ein Traum blieb. Sein Gegenstück im türkischen Bereich, Ziya Gökalp (1876-1924), verlieh seinem Nationalismus einen pantürkischen Anstrich. Der Islam sollte dabei die integrierende Kraft bleiben. Der charismatische türkische Prediger, Fethullah Gülen, verbreitet weltweit die Synthese eines nationalistisch-türkischen Islam mit seinem Bildungsnetzwerk erfolgreich.

Nationalistische Konflikte

Die strenge Verbindung von Staat und Religion im Islam erklärt teilweise die Unterdrückung und Benachteiligung nichtislamischer Volksgruppen in islamischen Ländern. Dort wo der Islam sich mit Rechtsextremismus, Rassismus und Faschismus verbindet, kann es zu furchtbaren Völkermorden kommen. Als Beispiel sei hier nur der Sudan angeführt, der von Saudi Arabien unterstützt gegen die Bevölkerung in Dafur seit 2003 massiv vorgeht. Aber auch zwischen islamischen Volksgruppen kann es lang andauernde bewaffnete Konflikte geben. Das belegen die Kämpfe zwischen (muslimischen) Kurden und Türken bzw. Arabern (im Irak) sowie zwischen Iran und verschiedenen arabischen Staaten in den Golfkriegen. Krawalle in Paris (2005) unter muslimischen Nordafrikanern und Morde in London (2008) unter Jugendlichen des subindischen Kontinents zeigen die Gefahr eines mit sozialen Problemen gekoppelten patriotischen Islam in Europa. Welche Rolle dabei jeweils Nationalismus, Islam, die Machtansprüche einzelner Herrscher oder Gruppierungen, soziale Fragen, wirtschaftliche Interessen etc. spielen, müsste im Einzelnen analysiert werden und scheint oft kaum zu entwirren.

Nationalität in christlicher Perspektive

Nach der Bibel hat zwar Gott durch Abraham das israelische Volk auserwählt, doch mit dem Ziel, durch dieses Volk alle Völker der Welt zu segnen. Denn das Heil kommt von den Juden (Joh 4,23). Trotzdem sollte Israel keinen überzogenen Stolz entwickeln, denn in der Bibel werden seine vielen Sünden unverhüllt dargestellt. Auch das neutestamentliche Volk Gottes wird stark in die Selbstkritik geführt. Jesus war zeit seines Lebens mit wenigen Ausnahmen nur zu den Juden gesandt, aber nach seiner Auferstehung ertönte der Befehl zur Weltmission (Mt 28,18-20). Jesus sagte vorher, es werde sich Nation gegen Nation erheben und es werde schreckliche Kriege unter den Völkern geben (Mt 24,6-7). Der Nationalismus wird als Krankheit der Völker um sich greifen. Andererseits werden jetzt verfeindete Völker, wie der Irak, Israel und Ägypten – vermutlich im angekündigten Millennium – ein Brudervolk werden (Jes 19,24-25). Christen nehmen die Zugehörigkeit zu ihrer Nation – wie die zu ihrer Familie – als Geschenk und Auftrag Gottes an und danken ihrem Herrn für alle Errungenschaften ihres Volkes, die ja auch ihnen zugutekommen. Zugleich wissen sie sich mit Christen anderer Nationen geistlich verbunden. Christlicher Nationalismus dagegen findet in der Bibel kein Fundament. Wo dieser (leider in einer Fülle von traurigen Beispielen) in der Geschichte auftrat, handelt es sich eindeutig um Verirrungen, über die Christen Buße tun sollten. Die Nationalität sollte bei Christen im Konfliktfall mit ihrem Glauben immer eine untergeordnete Rolle spielen. Der Aufbau eines christlichen Reiches oder gar Weltstaates ist für Christen unmöglich, da sich das Reich des Christus in den Herzen der Menschen ausbreitet (Lk 17,21) und bis zur Wiederkunft von Jesus nicht von dieser Welt ist (Joh 18,36). Doch selbst dann behalten die Völker ihre Freiheit (Sach 14,17), bis ein neuer Himmel und eine neue Erde mit neuen Gesetzmäßigkeiten von Gott erschaffen werden (Offb 21,1). Die Bibel bejaht die Völker, Nationen, Sprachen und Unterschiedlichkeiten – obwohl zumindest die verschiedenen Sprachen aus einer gottesfeindlichen Selbstüberhöhung des Menschen beim Turmbau zu Babel entstanden (1.Mose 11,4-6). Doch auch die Aufteilung der Menschheit in viele Nationen findet durch die Versöhnung mit Gott durch Jesus Christus die Anerkennung Gottes (Offb 5,9). Der Prophet Daniel kündigte an, dass zur Zeit des Römerreiches Gott selbst beginnen werde, sein Reich aufzurichten, was in Jesus Christus geschah: „Aber in den Tagen jener Könige wird der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das ewiglich nie untergehen wird; und sein Reich wird auf kein anderes Volk übergehen; es wird alle jene Königreiche zermalmen und ihnen ein Ende machen; es selbst aber wird ewiglich bestehen“ (Dan 2,44).

 

Orientierung 2008-04; 15.09.2008

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