Entwicklung des islamischen Rechts
Mohammed war im Jahr 622 n. Chr. wegen des zunehmenden Widerstands der Araber gegen die Botschaft des Islam von Mekka nach Medina emigriert. Dort konnte er sich zunächst als Schiedsrichter verfeindeter Gruppierungen, dann auch als Heerführer gegen Araber und Juden und schließlich als Gesetzgeber seiner muslimischen Gemeinde (arab. umma) etablieren. Besonders aus der medinischen Zeit sind daher im Koran die rechtlichen Regelungen einiger praktischer Alltagsfragen überliefert, deren Schwerpunkt auf dem Ehe- und Familienrecht sowie auf dem Strafrecht liegt. Der Koran enthält an keiner Stelle eine systematische Behandlung juristischer Belange, ja, nur rund 10% des Korantextes thematisieren überhaupt Rechtsfragen. Es geht in den rechtsrelevanten Texten vor allem um Betrug beim Handel, Vertragsbruch, Veruntreuung, Diebstahl, Mord und Totschlag, sowie im Eherecht um Ehebruch, Kindschaftssorgerecht und am Rand um das Zeugen- und Erbrecht. Außerhalb des Koran finden sich weitere rechtliche Regelungen in der Überlieferung (arab. hadith). Als Mohammed 632 n. Chr. starb, existierte also noch kein schriftlich niedergelegtes islamisches Gesetz. Der Koran war wie die Überlieferung schriftlich höchstens teilweise fixiert. Aber schon in den ersten Jahrzehnten nach Mohammeds Tod schritt die islamische Expansion rasch fort, und in diesen neueroberten Gebieten musste eine islamische Verwaltung und auch ein Rechtssystem etabliert werden. Die Prophetengefährten, Gelehrte und Juristen begannen nun zu erörtern, wie die überlieferten Entscheidungen Mohammeds und die rechtlichen Regelungen des Koran auf die Zeit nach Mohammed anzuwenden wären und welche Quellen zur Rechtsfindung – zur Beurteilung neu entstehender Fragen also – anerkannt werden sollten. Aus diesen Gelehrtenzirkeln der ersten Jahrzehnte entwickelten sich die Rechtsschulen.
Die sunnitischen Rechtsschulen
Der sunnitische Islam anerkennt heute vier Rechtsschulen (arab. madhahib, Pl. von madhab = Weg, Lehre, Schule), die im 8. Jahrhundert n. Chr. in den Zentren der islamischen Gelehrsamkeit entstanden. Die Rechtsschulen erkennen sich gegenseitig an, unterscheiden sich aber in einigen Lehrfragen, der Auslegung von Rechtsbestimmungen wie auch in Teilbereichen der religiösen Pflichtenlehre. Insgesamt sind die theologischen Differenzen aber nicht sehr groß. Alle Muslime gehören einer der Schulen an und befolgen die religiösen Vorschriften nach deren Tradition.
Die schafiitische Schule
Sie wurde vom „Vater der Rechtswissenschaft“, dem vielleicht berühmtesten muslimischen Juristen überhaupt, Mohammed Ibn Idris asch-Schafii (ca. 768-820) gegründet. Er setzte durch, dass nun auch die „Sunna“, die Entscheidungen Mohammeds, in allen rechtlichen Fragen als göttlich inspiriert galt. Wo sich Koran und Überlieferung in Rechtsfragen widersprechen, ist – so asch-Schafii – der Überlieferung vor dem Koran Vorrang einzuräumen! Wenn also der Koran die Auspeitschung von Ehebrechern befiehlt, die Überlieferung aber die Steinigung, so gilt heute Scharia-Gelehrten das Gebot der Steinigung allgemein als verbindlich. asch-Schafii definierte als maßgebliche Rechtsquellen den Koran, die Sunna (Gewohnheit Mohammeds), den Analogieschluss und den Konsens unter Rechtsgelehrten. Die schafiitische Rechtsschule findet sich heute vor allem in Indonesien, in Ostafrika, Südarabien und Südostasien.
Die hanafitische Schule
Die liberalste aller Rechtsschulen ist nach dem Juristen Abu Hanifa (699-767) benannt, wurde aber von dessen Schülern Abu Yusuf (731- ca. 795) und Mohammed al-Hasan ash-Shaybani (749- ca. 805) als Rechtsschule der Abbasiden begründet. Abu Hanifa war wiederum Schüler des damals wohl bedeutendsten Juristen von Kufa, Hammad Abi-Sulayman (gest. 737). Die hanafitische Schule ist heute vor allem auf dem Balkan, dem Kaukasus, Afghanistan, Pakistan, Turkestan, Zentralasien, Indien, China, Bangladesch und in der Türkei vertreten. In Österreich ist die hanafitische Schule als Religionsgemeinschaft staatlich anerkannt. Sie erkennt die vier von asch-Schafii definierten Rechtsquellen (Koran, Überlieferung, Konsens, Analogieschluss) an, darüber hinaus aber auch persönliche Rechtsfindung der Juristen und die Suche nach einer angemessenen Lösung zum Besten der islamischen Gemeinschaft.
Die malikitische Schule
Sie wurde von Ibn al-Qasim al-‚Utaqi (gest. 806) und Sahnun (gest. 854) begründet, aber nach deren Lehrer Malik Ibn Anas (ca. 713- ca. 795) benannt. Malik Ibn-Anas soll auf die Rechtsfindung der Rechtsschule von Medina als Stadt des Propheten besonderes Gewicht gelegt haben. Die malikitische Rechtsschule, die in Medina als Gegenbewegung zum Wirken des Abu Hanifa entstand, fasste besonders in Nordafrika, in Spanien, Westafrika und Zentralafrika Fuß. Heute findet man die malikitische Rechtsschule außerdem in Kuwait und Bahrain. Außer den vier von asch-Schafii definierten Rechtsquellen erkennen die Malikiten den Rechtsentscheid im Dienste der Wahrung des öffentlichen Interesses an.
Die hanbalitische Schule
Sie wurde von Ahmad Hanbal (780-855), dem Autor einer umfangreichen Überlieferungssammlung (Musnad) gegründet. Die hanbalitische Rechtsschule trat prinzipiell für die alleinige Anerkennung von Koran und Überlieferung als Rechtsquellen ein und lehnte jede Form menschlicher Rechtsfindung ab. Der Einfluss der hanbalitischen Rechtsschule scheint bis ins 18. Jahrhundert nicht groß gewesen zu sein, bis der Hanbalit Mohammed Ibn-‚Abd al-Wahhab (gest. 1792) mit der hanbalitischen Theologie die „wahhabitische Bewegung“ ins Leben rief. Er verhalf dadurch dieser Rechtsschule in Afrika, Ägypten und Indien, vor allem jedoch auf der Arabischen Halbinsel zu großem Einfluss. Heute ist die hanbalitische Rechtsschule vor allem in Saudi-Arabien, Katar und den VAE verbreitet.
Die schiitische Rechtsschule
Die wichtigste schiitische Rechtsschule ist die der Ja’fariten oder Imamiten, der Zwölferschiiten. Sie soll auf den 6. Leiter der schiitischen Gemeinde, auf Imam Ja’far as-Sadiq (gest. 765) zurückgehen. Diese Rechtsschule ist im Iran, Pakistan, Indien, Irak, Libanon, Bahrain und Aserbaidschan verbreitet.
Entwicklung zur Moderne?
Erstaunlicherweise ist nach Beginn des 10. Jahrhunderts keine neue Rechtsschule gegründet worden, was später mit dem Terminus der „Schließung des Tores des Idschtihad“ (der selbständigen Rechtsfindung) bezeichnet wurde. Nachdem die selbstständige Rechtsfindung nicht mehr möglich war, blieb den Rechtsgelehrten nur noch die „Nachahmung“ (arab. taqlid), was eine gewisse Erstarrung der islamischen Rechtswissenschaft zur Folge hatte. Daher gilt der orthodoxen Theologie die Findung neuer Wege zur rechtlichen Beurteilung moderner Fragen in der Regel als „Neuerung“ oder „Ketzerei“ (arab. bid’a). Eine Fortentwicklung des klassischen islamischen Rechts in Richtung einer Aufklärung und Liberalisierung zur Aussöhnung mit der Moderne – z. B. in Bezug auf die drastischen Körperstrafen – ist daher bisher leider nicht in Sicht.
Orientierung 2009-03; 14.07.2009