„Scharia“ ist heute eines der meistgebrauchten Schlagwörter, wenn über den Islam diskutiert wird. Islamisten fordern in ihren jeweiligen Heimatländern, die Scharia zur Grundlage der staatlichen Gesetzgebung zu machen. Kritiker des Islam warnen vor der Grausamkeit der Scharia, wie sie sich in einigen Strafen äußere (Handabhacken bei Dieben, Steinigung von Ehebrecherinnen). Gleichzeitig ist jedoch „Scharia“ einer der am wenigsten klar definierten Begriffe innerhalb des Islam. Auch wenn der Begriff schon für Gesetzessammlungen islamischer Staaten angewandt wurde, ist die Scharia eigentlich mehr: Sie ist kein real vorliegenden Gesetzbuch, das man ohne weiteres und plötzlich zum Gesetz eines Staates machen könnte. Vielmehr ist „Scharia“ eine Idealvorstellung vom göttlichen Gesetz, das alle Lebensbereiche des Muslims regeln soll.
Quellen der Scharia
Ursprünglich meint der arabische Begriff „Scharia“ den Pfad in der Wüste, der zur Wasserquelle führt. Die Scharia ist der Wegweiser, der den Menschen zu Gott, seiner Quelle führen soll. Im Koran selbst kommt der Begriff nur einmal vor (Sure 45,18) und heißt dort so viel wie „Ritus“. Unbestritten gilt dem sunnitischen Islam der Koran als die Quelle der Scharia. Der Koran enthält jedoch nur einzelne Anweisungen, die direkt zur Grundlage einer Gesetzgebung zu machen sind. Schon früh in der islamischen Geschichte trat daher neben den Koran als Quelle des Rechtes die „Sunna“, das vorbildliche Handeln und Reden des Propheten Mohammed. Die Berichte über Verhalten und Worte Mohammeds wurden in den sogenannten „Hadithen“ gesammelt. Später filterten islamische Theologen aus der unüberschaubaren Fülle dieser Hadithen nach bestimmten Regeln die als echt anzuerkennenden Überlieferungen heraus. Es entstanden die weitgehend noch heute anerkannten Hadith-Sammlungen.
Entstehung des islamischen Rechts
In den ersten Jahrhunderten islamischer Zeitrechnung schufen dann auf Grundlage von Koran und Hadith islamische Rechtsgelehrte (die „Fuqaha´“) das, was weithin unter „Scharia“ verstanden wird: eine islamische Rechtssammlung. Da Koran und Hadith schon für die Fragen der damaligen Zeit nicht immer konkrete Antworten bereithielten, traten für die frühen Rechtsgelehrten zwei weitere Quellen der islamischen Rechtswissenschaft hinzu: „Idschma´“, der Konsens der islamischen Rechtsgelehrten über ein Thema, sowie „Qiyas“, der Analogieschluss. Dabei wurden neu auftretende Fälle in Anlehnung an bekannte Fälle entschieden. Innerhalb des sunnitischen Islams setzten sich im Laufe der Zeit vier Rechtsschulen durch: Schafiiten, Malikiten, Hanbaliten und Hanafiten. Diese Schulen sind jeweils nach ihrem Begründer benannt und sind in verschiedenen Regionen der islamischen Welt vorherrschend. Sie weichen in vielen Einzelfragen des islamischen Rechts voneinander ab – in diesem Sinne gibt es also eine regional unterschiedliche „Scharia“. In den Grundfragen sind sich diese Schulen jedoch einig. Man erkennt auch die jeweils anderen Schulen als rechtgläubig an.
Fünf Kategorien für Verhalten
Gemäß dem islamischen Verständnis von Hingabe (Islam) an Allah umfasst die Scharia Regelungen nicht nur für Familienrecht, Strafrecht, Erbrecht etc. sondern auch genaue Anweisungen für religiöse Rituale und Pflichten. Die Rechtswissenschaft hat dabei jede Handlung in ein System von fünf Kategorien eingeordnet:
1. „Fard“ – eine Handlung ist Pflicht für jeden Gläubigen (z. B. das rituelle Gebet)
2. „Haram“ – Verbotene Handlungen (z. B. Alkoholgenuss)
3. „Mandub“ – Empfehlenswert. Eine Handlung ist erwünscht (z. B. zusätzliche Gebete), das Nichtbefolgen wird jedoch nicht bestraft
4. „Makruh“ – Verwerflich oder nicht empfehlenswert.
5. „Mubah“ – Erlaubt, Handlungen, für die es keine religiöse Beurteilung gibt (z. B. eine Flugzeugreise).
Scharia in islamisch geprägten Staaten
Es gibt heute in Staaten mit islamischer Bevölkerungsmehrheit sehr verschiedene Modelle im Blick auf die Bedeutung der Scharia. Während etwa die Türkei laut Verfassung ein säkularer Staat ist, dessen Verfassung keinen Bezug auf das islamische Recht nimmt, haben andere Staaten (etwa Pakistan oder Sudan) beschlossen, die Scharia zur Grundlage der Rechtsprechung zu machen. Das kann in der Praxis heißen, dass neue Gesetze von islamischen Juristen auf ihre Vereinbarkeit mit dem überlieferten islamischen Recht überprüft werden. Dazwischen stehen Staaten wie Malaysia, die sich zwar als islamischen Staat bezeichnen, deren Gesetzgebungsverfahren aber säkular, also rein aufgrund Mehrheitsentscheidung des Parlamentes erfolgt. Saudi-Arabien hat den Koran zur Verfassung seiner Monarchie erklärt, in der Praxis zieht es trotzdem auch andere Rechtsquellen heran.
Heutige Diskussion um die Scharia
Für moderne Islamisten, die im eigenen Land Opposition sind, ist der Begriff „Scharia“ der Ausdruck für die Sehnsucht nach der goldenen frühen Zeit des Islam im Gegensatz zu den heutigen, oft uneffektiven und korrupten Regimen. Solche Islamisten erwarten von der Einführung der Scharia als Grundlage der Rechtsprechung die Lösung für alle religiösen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Gegenwart. Es gibt jedoch bereits seit dem 19. Jahrhundert islamische Denker, die für eine Neudefinition des Verhältnisses von Scharia und staatlicher Gesetzgebung eintreten. Manche weisen wie der ägyptische Theologe des 19. Jahrhundert, Mohammed Abduh, darauf hin, dass es in der gesamten islamischen Geschichte niemals gelungen sei, ein wirklich „der Scharia entsprechendes“ Staatsgesetz zu formulieren, geschweige denn, es dann auch wirklich durchzuführen. Oft habe der jeweilige Herrscher des Landes Gesetze geschaffen, wie sie ihm selbst passten. Problematisiert wird auch unter modernen islamischen Denkern die Tatsache, dass es ein wirklich gleichberechtigtes Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen in einem Staat unter der Scharia nicht gibt. Daher gibt es Vorschläge, die Scharia mehr als Lebensweise zu verstehen, die dem Moslem in einem säkularen Staat die Richtschnur für sein freiwilliges persönliches Leben mit Allah gibt. Der Staat ermöglicht demnach, dass Muslime gemäß der Scharia leben können, macht sie aber nicht zur Pflicht für alle Staatsbürger.
Die innerislamische Diskussion über die Scharia ist im Fluss. Das Ergebnis ist noch nicht abzusehen.
Orientierung 2000-05; 15.11.2000
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