Politische Entwicklungen in der Türkei

Nach türkischen Überlieferungen liegt das Ursprungsland der Türken im Altai-Gebirge. Das Altai-Gebirge befindet sich im Westen der Mongolei und im Osten von Kasachstan. Da die Türken später als manche anderen Völker lesen und schreiben lernten, gibt es über ihre sehr frühen Entwicklungen kaum wissenschaftlich verwertbare Unterlagen. Türkische Völker gibt es heute verstreut über ganz Asien. Das östlichste Turkvolk war und sind die Uiguren in West-China. Diverse Turk-Völker wohnten und wohnen in Sibirien. Andere Turk-Völker leben in Zentralasien, z. B. Kirgisistan, Usbekistan, Turkmenistan, Kasachstan, ebenso im Kaukasus, z. B. Aserbaidschan. Die vorherrschende Religion der Turkvölker waren ursprünglich der Animismus und das Schamanentum. Auf Grund der Klimaveränderungen und Überweidung in manchen Teilen Asiens breiteten sich die Wüsten immer mehr aus. Weideland und Wasser wurden knapp. Um neuen Lebensraum zu finden, zogen türkische Stämme westwärts, über Afghanistan und Nord-Persien Richtung Anatolien. In der Zeit dieser Völkerwanderung, die mehrere Jahrhunderte dauerte, wurden manche Turkvölker vom Christentum erreicht. So gab es etwa große türkische Kirchen im heutigen Aserbaidschan. Ein türkischer Stamm, die Gagawusen, bekehrte sich ganzheitlich zum Christentum. Diese türkisch-sprachigen Christen leben bis heute hauptsächlich in Moldawien. Im siebenten Jahrhundert entstand auf der arabischen Halbinsel der Islam, der sich von dort aus schnell ausbreitete. Ab dem 9. Jahrhundert wird von einer größeren Zahl von Türken berichtet, die den Islam annahmen und zusammen mit den Arabern für die Festigung und Ausbreitung der Herrschaft des Islam kämpften. Die Islamisierung der Turkvölker dauerte bis weit ins 11. Jahrhundert. Heute sind mit Ausnahme der Gagawusen und einiger Stämme in Sibirien fast alle Türken Muslime. Etwa ab dem Jahr 1000 n. Chr. waren die Türken militärisch den arabischen Muslimen überlegen. So kam es, dass vor allem die Türken durch Eroberungen das Herrschaftsgebiet des Islam vergrößerten. Bald waren die Türken auch Herrscher über manche arabische Völker. So wurde ein türkischer Stamm im Jahr 1055 Schutzmacht für Bagdad. Während die arabischen und später auch die persischen Muslime in der religiösen und kulturellen Entwicklung des Islam führten, waren die Türken die militärischen Machthaber. Die Übernahme der Macht durch die Türken haben manche Araber schlecht verdaut. Bis heute gibt es zwischen Arabern und Türken wenig Herzlichkeit. Die nach Westen vordringenden Türken wurden natürlich von den bisherigen Bewohnern nicht immer willkommen geheißen. Mehrheitlich waren die Gegner der vorrückenden Türken christliche Völker. Deshalb betrachten die Türken bis heute die Christen mit Argwohn. Historisch gesehen waren die Christen immer die Feinde der Türken. In Anatolien herrschten damals die Byzantiner; sie waren Griechen und hatten ihr kirchliches Zentrum in Byzanz oder Konstantinopel, wie man die Stadt später nannte. Im Jahr 1071 kam es zur ersten größeren Schlacht zwischen Türken und Byzantinern in Ostanatolien. Die Türken siegten. Eine Provinz nach der anderen kam unter die Herrschaft eines türkischen Sultans. Die neu unter türkischer Herrschaft lebenden Einwohner der Türkei waren außer den Griechen Armenier, Kurden, Lasen, Araber, Assyrer und auch zahlreiche Juden. Die Türken herrschten zwar bald über weite Gebiete und erhoben Steuern, gewährten aber den dort wohnenden Völkern weitgehende Selbstverwaltung.

Türke sein heißt Soldat sein

1389 kamen Serbien und Kosovo unter osmanische Herrschaft.

1453 fiel nach einer sehr langen Schlacht Konstantinopel, das heutige Istanbul, an die Türken. Danach gingen die türkischen Feldzüge weiter nach Westen, aber auch nach Norden und nach Südosten. Für sehr viele Türken war der Krieg, das Soldat-Sein der Beruf, während die Nicht-Türken ihr Leben mit Handwerk, Landwirtschaft oder Handel verdienten.

1517 übernahmen die Türken von den Arabern das Amt des Kalifen. Das heißt: der türkische Sultan war gleichzeitig der oberste Stellvertreter Allahs und des Propheten Mohammed.

Um das Jahr 1683 hatte das Osmanische Reich seine größte Ausdehnung erreicht. Außer der Türkei gehörten zum Osmanischen Reich folgende Länder: ganz Nordafrika, Ägypten, Sudan, Somalia, weite Teile Arabiens und der Jemen, Syrien, Irak, Jordanien, Palästina, West-Iran, Griechenland, Bulgarien, Mazedonien, Bosnien, Serbien, Kosovo, Albanien, Armenien, Georgien, Ukraine, Moldawien, Rumänien, Ungarn und Teile von Kaukasien und Zentralasien. Dies bedeutet keineswegs, dass alle diese Völker muslimisch wurden, sondern lediglich, dass sie muslimisch beherrscht wurden. Selbst in der Türkei bestand die Bevölkerung noch vor etwa hundert Jahren zu etwa 60 % aus Muslimen und zu etwa 40 % aus Christen. Das so gewaltige Osmanische Reich zu erobern und zu verteidigen bedeutete fast endlose Kriege. Und das Soldat-Sein gehörte ganz einfach zur Identität der Türken. Bis heute gibt es in der Türkei kaum eine geachtetere Gruppe als die der Offiziere und Generäle. Bis heute gibt es an den Schulen in der Türkei den obligatorischen Patriotismus-Unterricht, mit dem das Bewusstsein der Kinder gefördert werden soll, als zukünftige Soldaten aufzuwachsen. Noch ist es nur eine Minderheit, die fordert, die blutigen Heldengeschichten der gegen die „Ungläubigen“ kämpfenden Türken aus den Geschichtsbüchern zu verbannen und die türkischen Kinder und Jugendlichen zu mehr Toleranz und friedlichem Miteinander zu erziehen. Zur Identität der Türken gehören natürlich nicht nur der Patriotismus und Nationalismus, sondern auch der Islam. Es ist für die meisten Türken schlicht undenkbar, dass ein Türke etwas anderes als Muslim sein könnte. Dabei ist es aber unerheblich, ob einer fromm seine Gebete verrichtet und fastet oder nicht. Viele Türken leben kaum anders als Atheisten. Wichtig ist zunächst nur, dass man sich zum Türkentum hält und bekennt und seinen Wehrdienst leistet.

Evangeliumsverkündigung

Das Jahr 1700 markiert den Anfang des Niedergangs und Zerfalls des Osmanischen Reiches. Große Gebiete gingen an Russland.

Ab 1770 begannen die osmanischen Sultane und ihre Berater, sich westlichem Gedankengut zu öffnen.

Ab 1820 wurde christliche Missionsarbeit im Osmanischen Reich möglich. Amerikanische und deutsche Missionare bauten und unterhielten Schulen, Krankenhäuser, Waisenhäuser, Blindenschulen und ähnliches. Man versuchte zunächst, die armenisch-orthodoxen, griechisch-orthodoxen und syrisch-orthodoxen Kirchen von innen her neu zu beleben und zu reformieren. Die Evangeliumsverkündigung brachte viel Erfolg. Bald wurden aber die neu erweckten Christen von den orthodoxen Kirchenleitungen ausgeschlossen, so dass evangelische Gemeinden gegründet werden mussten. Es entstanden über das Land verteilt mehrere hundert blühende Gemeinden und drei Bibelschulen. Auch einzelne Muslime bekehrten sich. Um überhaupt überleben zu können, mussten sie armenische Namen annehmen und in armenischen Stadtteilen leben oder sich ins Ausland begeben.

Armenier-Verfolgung

1895 fand die erste Armenierverfolgung statt.

1908 wurde Sultan Abdulhamid abgesetzt. Hohe Offiziere und reformorientierte Kräfte der Bewegung „Jungtürken” übernahmen die Regierung.

1914-1918 kämpfte die Türkei auf der Seite Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Mit der Niederlage Deutschlands war auch das Ende des Osmanischen Reiches besiegelt.

1915 geschah die zweite Verfolgung und Vertreibung sehr vieler Armenier und Assyrer aus der Türkei. Einflussreiche türkische Generäle und Minister betrieben mit allen Mitteln die ethnische Säuberung. Im Kerngebiet des Osmanischen Reiches sollten nur Türken leben. Bei dieser Aktion der Türken gegen die Minderheiten gab es furchtbare Gräueltaten und Massenmorde. Man darf dabei nicht vergessen, dass das Osmanische Reich militärisch von allen Seiten bedroht war – im Norden und Osten hauptsächlich von den Russen – und dass manche Armenier und Assyrer auf der Seite der Russen gegen die Türken kämpften. – Leider hat die deutsche Armee, die mit der türkischen Armee eng zusammenarbeitete, herzlich wenig zum Schutz der Armenier beigetragen. Mit der Ermordung und der Vertreibung sehr vieler Armenier und Assyrer endete die Missionsarbeit in der Türkei. Einzelne evangelische Armeniergruppen lebten dann in den Ländern weiter, die sie als Flüchtlinge aufgenommen hatten.

Moderne Türkei

Nach Kriegsende im Jahr 1918 besetzte Griechenland den Westen der Türkei, Frankreich eignete sich die an Syrien angrenzenden Gebiete an und die armenische Armee besetzte Teile der Nordost-Türkei. In den Jahren 1919-1923 gelang es den Türken im Unabhängigkeitskrieg unter der Führung von Mustafa Kemal Atatürk, alle fremden Besatzungstruppen aus dem Gebiet der heutigen Türkei zu vertreiben.

1923 gründete Atatürk die moderne Türkei.

1924 wurde das Kalifat ersatzlos abgeschafft.

Atatürk war ein ausgezeichneter General und ein türkischer Nationalist, der in Frankreich studiert hatte. Er wurde und wird bis heute in einer Weise verehrt, die bei uns kaum vorstellbar ist. Es fällt auf, dass Atatürk denselben Titel trägt wie Jesus Christus, nämlich den Titel „Retter”. Atatürk war höchstens dem Namen nach Muslim. Er war überzeugt, dass die muslimischen Führer den Niedergang des Osmanischen Reichs mitverschuldet hatten und dass sie der Modernisierung des Staates im Wege standen. Atatürk und seine Mitkämpfer aus der Jungtürken-Bewegung vertraten die These, die „Arabisierung” und „Islamisierung“ der türkischen Nation sei ein historisches Unglück gewesen. Das türkische Volk sei doch schon vor der Islamisierung eine große Nation gewesen. Jetzt sei die Zeit gekommen, die ursprüngliche türkische Zivilisation wiederzubeleben…. Atatürk hat zwar seinem Nationalismus entsprechend in den Geschichtsbüchern alte türkische Helden wieder aufleben lassen, die Islamisierung der Nation konnte er aber nicht rückgängig machen. Trotzdem: Die Reformen Atatürks waren radikal und in der islamischen Welt einmalig. Vor allem sollte der neue türkische Staat laizistisch sein. Dies bedeutete eine strikte Trennung von Staat und Religion. Aber nicht etwa so, wie in Frankreich, wo Staat und Religionsgemeinschaften sich gegenseitig nicht einmischen; sondern der türkische Staat hatte sehr wohl das Recht, sich in die religiösen Angelegenheiten einzumischen. Andererseits sollten die religiösen Führer auf die Staatsregierung und die Gesetzgebung in der Türkei keinen Einfluss mehr nehmen können. Die bisher sehr einflussreichen religiösen Orden und Bruderschaften wurden zwangsaufgelöst. Die Moscheen und Imame wurden staatlicher Kontrolle unterstellt. Die Imame werden vom Staat bezahlt und stehen unter Aufsicht einer staatlichen Behörde. Die arabische Schrift wurde durch die lateinische ersetzt, der gregorianische Kalender und der Sonntag als Feiertag wurden eingeführt. In Schulen, Universitäten und Behörden wurde die Verschleierung von Frauen verboten. Islamische Gesetze und Gerichte wurden abgeschafft und durch zivile Gesetze und Gerichte ersetzt. Frauen wurden vor dem Gesetz Männern gleichgestellt und erhielten 1926 das Stimmrecht, viel früher als in manchen Staaten Westeuropas. Die Mehrehe wurde abgeschafft. Religion sollte weitgehend Privatangelegenheit der einzelnen sein. Von der Religion unabhängige Schulbildung wurde für alle Kinder Pflicht. Die sprachlichen, ethnischen und religiösen Minderheiten sollten weitestgehend integriert, wenn nicht sogar assimiliert werden. In der Schule, während des Wehrdienstes und in allen Behörden war nur die türkische Sprache erlaubt. Auch in Rundfunk und Fernsehen gab es nur Sendungen in türkischer Sprache. Alle Bewohner der Türkei sollten sich als Türken begreifen. Wer seine Identität als Mitglied einer Minderheit betonte oder mit anderen Personen seiner Minderheit eine Vereinigung einging, wurde verdächtigt, Staatsfeind zu sein und hatte dementsprechend behördlichen Druck zu erleiden.

Drei türkische Grundprinzipien Atatürks

Drei Aussagen Atatürks verzierten noch um 1970 in der Türkei hundertfach als Banner oder Großplakate Straßen und Gebäude. Es lässt sich kaum erahnen, welcher Sprengstoff in diesen Aussagen liegt.

1. Türkiye Türklerindir. (Die Türkei gehört den Türken.)

2. Ne mutlu Türküm diyene! (Glücklich ist wer sagt „Ich bin ein Türke”!

3. En hakiki mürşid ilimdir. (Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft.)

1. Die Türkei gehört den Türken. Nach der Verfassung der Türkischen Republik sind alle Staatsbürger ungeachtet ihrer Herkunft oder Religion vor dem Gesetz gleich. Atatürks Aussage „Die Türkei gehört den Türken” bedeutet aber, dass nur diejenigen, die sich als Türken bekennen, voll anerkannte Staatsbürger sind. Wer sich zu einer Minderheit bekennt und nicht Türke sein will, ist in der Praxis ein Bürger zweiter Klasse. Gruppen, die innerhalb der Grenzen der Türkei auf Grund von Rasse oder Sprache Unabhängigkeit oder Autonomie fordern, werden bekämpft. So kämpft die türkische Armee seit Jahrzehnten gegen die kurdisch-nationalistische Separatisten-Bewegung PKK. Kurden und andere Minderheiten sollen sich als Türken fühlen und sich beim Aufbau des türkischen Staates einbringen.

2. Glücklich ist wer sagt „ich bin ein Türke“. Auch diese Aussage ist im streng nationalistischen Sinn zu interpretieren. Die Idee der Nationalisten war: ein Staat, ein Volk, eine Sprache, eine Armee. Die Einheit und Ganzheit der Bevölkerung war Atatürk und seinen Anhängern überaus wichtig. Deshalb wird das große Land zentral von Ankara aus regiert. Die Provinzen haben so gut wie keine eigenen Befugnisse. – Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bis heute den christlichen Missionaren und Gemeinden nicht so sehr der Vorwurf gemacht wird, sie würden dem Islam als Religion Schaden zufügen. Der Vorwurf, den wir immer wieder hören, lautet: Ihr wollt unsere völkisch-staatliche Einheit zerstören, ihr wollt Abspaltungen, ihr wollt das Türkentum schwächen.

3. Der einzig wahre Führer im Leben ist die Wissenschaft. Diese Aussage richtet sich gegen den Islam, der sich weigert, sich erforschen oder hinterfragen zu lassen, den Islam, der rückwärtsgewandt ist und die ideale Gesellschaftsform in der islamischen Urgemeinde sieht, der sich gegen technische Neuerungen, moderne Bildung und neue wissenschaftliche Erkenntnisse stellt und sich damit zufrieden gibt, alte Traditionen weiter zu führen. Es ist erstaunlich, dass Atatürk mit dieser eigentlich frontal anti-islamischen Aussage durchkam. Es ist nur damit erklärbar, dass er eben als Retter der Nation und als Oberbefehlshaber der traditionell so geachteten Armee eine unglaubliche Autorität hatte, gegen die niemand standhalten konnte. Hauptsächlich die Offiziere der Armee, aber auch die Elite der Gebildeten verstanden sich als Garanten für den Fortbestand des Erbes von Atatürk, nämlich des laizistischen Staates. Die Landbevölkerung blieb weitgehend muslimisch fromm, und manche der Reformen gingen ihnen zu weit. Es gab durchaus auch muslimische Führer, die ihre Entmachtung nicht annehmen konnten und örtliche Rebellionen anführten oder Verschwörungen gegen Atatürk anzettelten. Sie konnten aber gegen die türkische Armee nicht viel ausrichten. 1938 starb Atatürk. Die Republik Türkei hatte ein Parlament, das in freien Wahlen bestimmt wurde. Atatürk hatte es geschafft, die türkische Gesellschaft so weit zu festigen, dass sie nicht – wie manche Nachbarvölker – den Verführungen des Kommunismus oder des Faschismus erlag. Der eine große Unterschied zu westlichen Demokratien lag darin, dass im Rahmen der türkischen Verfassung die obersten Offiziere der Armee sehr viel Macht besaßen. Letztere konnten, wenn sie es für nötig erachteten, Regierung und Parlament auflösen, vor allem, wenn Gefahr bestand, dass Muslime die laizistische Staatsform ändern wollten. Genau dies ist in den etwa 70 Jahren seit dem Tod Atatürks vier Mal geschehen.

Die erste Zeit nach Atatürk

Nach dem Tod Atatürks 1938 wurde İsmet İnönü Ministerpräsident. Sein besonderes Verdienst ist es, dass die Türkei im zweiten Weltkrieg neutral blieb. Von 1950 bis 1960 war Adnan Menderes Ministerpräsident. Er kam durch eine freie demokratische Wahl an die Macht. Er versuchte, das Rad der Geschichte zurück zu drehen und ging auf manche Forderung der frommen Muslime ein. Er wurde 1960 von Offizieren der Armee verhaftet und später gehängt. 1961 wurde Ismet Inönü erneut Ministerpräsident. Unter ihm wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und in Kraft gesetzt, in der unter anderem die Religionsfreiheit ausdrücklich garantiert wurde.

Moderne Missionsarbeit

Nachdem die Nachricht dieser neuen türkischen Verfassung mit Religionsfreiheit in England bekannt wurde, reagierten evangelikale Missionsgesellschaften und bereiteten sich darauf vor, neues Personal in die Türkei zu schicken. Die Türkei wurde zusammen mit Libyen, Saudi-Arabien und Afghanistan als eine der vom Evangelium am wenigsten erreichten Nationen eingestuft. Ein erstes kleines Team von Mitarbeitern kam in den Jahren 1961-1962 in der Türkei an. In der modernen Türkei – und vor allem unter der muslimischen Bevölkerungsmehrheit – sollte das Evangelium wieder verbreitet werden. 1962 gab es nur einen einzigen aus dem Islam heraus bekehrten Türken, der in der Türkei lebte. Außerdem existierten in dem riesigen Land fünf oder sechs kleine Gruppen von evangelischen Christen aus den Minderheiten der Armenier, Aramäer und Griechen. Nach der Ansicht der Polizei und der Mehrheit der Bevölkerung bedeutete die in der Verfassung garantierte Religionsfreiheit vor allem, „dass jeder glauben und leben kann, was er will. Sie ist aber kein Freibrief für christliche Propaganda und Abwerbung.“ Jedenfalls war die Polizei argwöhnisch im Blick auf die missionarische Tätigkeit des Teams. Wenn aber ausländische Mitarbeiter vor Gericht erscheinen mussten, wurden sie auf Grund der Verfassung freigesprochen. Allerdings wurde manchen nach einer gewissen Zeit die Aufenthaltserlaubnis verweigert, danach erfolgte die Ausweisung. Später kamen andere Mitarbeiter, die von den Erfahrungen des ersten Teams profitieren konnten. Mit der Zeit wurden die Ausweisungen seltener, und es gibt eine Anzahl von ausländischen Mitarbeitern, die inzwischen schon 20 – 30 Jahre in der Türkei tätig sein konnten.

Konvertiten

Einheimische ex-Muslime, die nach und nach zur Gemeinde stießen, machen sehr unterschiedliche Erfahrungen. Meistens werden sie von der eigenen Familie schwer unter Druck gesetzt oder ganz aus der Verwandtschaft ausgestoßen, was auch bedeutet, kein soziales Netz mehr zu haben. Oft gibt es am Arbeitsplatz Schwierigkeiten und manche haben ihre Arbeit verloren. Viele Türken wollen keinen Christen als Nachbarn. So haben Christen Nachteile bei der Wohnungssuche. Kurz gesagt: die Christen, vor allem Konvertiten aus dem Islam, werden oft von der ganzen sie umgebenden Gesellschaft ausgegrenzt und verachtet, oft auch bedroht, diskriminiert, schikaniert, verleumdet und zu Unrecht angeklagt.

Christliche Gemeinden

Langsam ist trotz aller Schwierigkeiten das Gemeindepflänzchen in der Türkei gewachsen. Zurzeit rechnet man mit etwa 3000 – 4000 evangelischen Gläubigen in etwa 100 Gemeinden und kleinen Gruppen. Diese Zahlen schließen sowohl aus dem Islam bekehrte Türken und Kurden, als auch Bekehrte aus den orthodoxen Kirchen mit ein.

Morde an Christen

1979 wurde in Adana der amerikanischer Mitarbeiter, David Goodman, erschossen. In der Geschichte der modernen Türkei gab es sonst bis ins Jahr 2006 keine Märtyrer. 2007 wurden in Malatya ein deutscher Mitarbeiter, Tilmann Geske, und zwei einheimische Evangelisten bestialisch umgebracht. Dieses Geschehen hat die Gemeinden in der Türkei und die ausländischen Mitarbeiter dort tief getroffen und erschüttert.

Die Armee

Hier kommen wir zurück zu den politischen Entwicklungen in der Türkei. Die türkische Armee ist immer noch sehr stark. Sie ist außer der amerikanischen die größte Armee innerhalb der NATO (seit 1952). Sie war während des Kalten Krieges wichtig in der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Block und kämpfte später gegen die kurdischen Separatisten und andere Terroristengruppen. Ihre Führung genießt hohes Ansehen. Im Jahr 2000 beschlossen die Generäle, eine Annäherung der Türkei an die EU zuzulassen. Was die Armeeführung aber weiterhin verhindern möchte, ist die erneute Einflussnahme des Islam auf Regierung und Staat.

Neue Freiheiten unter der AKP-Regierung

Im Jahr 2002 erhielt die islam-freundliche AKP in freien Wahlen die Mehrheit der Stimmen und die Mehrheit der Sitze im türkischen Parlament und konnte damit allein regieren. AKP heißt „Adalet ve Kalkınma Partisi“ oder „Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt.” Im Jahr 2007 und 2011 wurde die Partei mit Tayyıp Recep Erdoğan an der Spitze der Regierung und Abdullah Gül als Staatsoberhaupt mit noch größerer Mehrheit wiedergewählt. Sowohl in der Türkei selbst, als auch im Ausland wurde in der Presse gewarnt, unter der Führung der AKP würde die Türkei erneut zu einem islamischen Staat mit islamischem Recht. Mit der Religionsfreiheit sei es jetzt vorbei. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen jedoch genau das Gegenteil. Nie zuvor hatten die Christen relativ so viele Freiheiten wie unter der AKP-Regierung. Neue Testamente können auf der Straße verteilt oder verkauft werden. An den christlichen Feiertagen können große Säle gemietet und viele Außenstehende zu den Veranstaltungen eingeladen werden. Es gibt mit behördlicher Erlaubnis zwei christliche Rundfunkanstalten und einen Fernsehkanal. An Ostern war es der Gemeinde in Antalya erlaubt, einen Ostermarsch durch die Straßen der Stadt durchzuführen. Natürlich gibt es daneben auch Negatives zu berichten. Aber weshalb diese größeren Freiheiten unter der AKP-Regierung?

Gründe für die neue Freiheit

Die frommen Muslime hatten – genauso wie die Christen – jahrzehntelang unter den säkularen, antireligiösen türkischen Regierungen gelitten. Sie waren in ihrer muslimischen Praxis sehr behindert und von der säkularen Elite als altmodisch und hinterwäldlerisch verachtet worden. So, wie die AKP-Regierung jetzt ihren muslimischen Wählern einige Freiheiten zur Religionsausübung zurückgeben wollte, hat sie auch den Christen einiges mehr erlaubt. Es geht ja hier auch vornehmlich um Christen, die als Türken Christen sind und keine völkische Abspaltung planen. Die Türkei ist unter der AKP-Regierung kein islamistischer Staat geworden. Die AKP hat zwar Schritte unternommen, um die Machtbefugnisse der Generäle und obersten Richter einzuschränken, die laizistische demokratische Staatsform hat sie jedoch unangetastet gelassen.

Fethullah Gülen

Die den Christen gegenüber etwas tolerantere Haltung von Regierung und Bevölkerung mag auch mit dem wachsenden Einfluss der Fethullah Gülen-Bewegung zusammenhängen. Diese Bewegung soll zurzeit etwa 11 Millionen Anhänger zählen. Fethullah Gülen ist ein frommer muslimischer Gelehrter, der zusammen mit seinen Getreuen vor allem auf Bildung und Dialog setzt. Die Bewegung unterhält zahlreiche erstklassige Bildungseinrichtungen, sowohl in der Türkei als auch weltweit.

Der Kampf um die Vorherrschaft innerhalb der Türkei

Die islam-freundliche AKP betrieb den Anschluss an die EU, die säkulare Bildungselite und die hohen Offiziere lehnen den Anschluss an die EU weitgehend ab. Weshalb? Weil die EU schon seit Jahren immer wieder klar gemacht hat, dass sie nur Länder mit demokratisch gewählten zivilen Regierungen als Mitglieder zulassen will. Die einmaligen verfassungsmäßigen Machtbefugnisse der Militärs in der Türkei müssen entscheidend abgebaut werden, damit die Aufnahme der Türkei in die EU möglich wird. Es sind dazu wichtige Änderungen in der Verfassung und in den Gesetzen der Türkei notwendig. Ebenso muss das Parlament über den obersten Richtern stehen. Vor kurzer Zeit war es noch so, dass die obersten Richter die Regierung auflösen und vom Parlament beschlossene Gesetze für ungültig erklären konnten. Um einige dieser Verfassungsänderungen wird zurzeit im Parlament gefeilscht. Es ist klar, dass Militärs und Richter darum kämpfen, ihre Macht behalten zu können. Und als Nationalisten wollen sie natürlich nicht, dass die EU ihnen Vorschriften machen kann.

Erfolge der AKP-Regierung

Um die Mitgliedschaft in der EU zu erreichen, müsste die Türkei eine Lösung des Zypernkonflikts suchen und finden und den Türkei-internen Konflikt mit der kurdischen Minderheit beenden. Ebenso müssten bessere Lösungen zum Zusammenleben mit den christlichen Minderheiten her. In all diesen Punkten versuchen die so sehr nationalistischen Militärs und mindestens zwei der Oppositionsparteien, die Regierung zu bremsen. Erstaunliche Erfolge hatten Abdullah Gül, Tayyıp Erdoğan und der Außenminister Ahmet Davutoğlu in der Außenpolitik. Im Gegensatz zu ihren anti-islamischen Vorgängern war es ihnen kürzlich möglich, bessere Beziehungen zu Syrien, Irak, Iran, Libyen, Saudi-Arabien und dem Sudan zu knüpfen. Mit einigen dieser Staaten wurde gegenseitige Visafreiheit und Handelsabkommen vereinbart. Aber nicht nur zu muslimischen Staaten, sondern auch zu Armenien, Georgien, Russland und Griechenland wurden engere Beziehungen aufgenommen. Dies hilft dem türkischen Export und dem Tourismus. (Mit den Nachbarn Syrien und Armenien sind ernsthafte Spannungen aufgetreten.) Die Armee und die Bildungselite sind in einer Zwickmühle. Die Autorität der Armee als ehrbare Institution hat beim Volk abgenommen. Die Anhänger der antiislamischen Gruppierungen sind zu einer Minderheit geworden. Ein erneuter militärischer Putsch gegen die zivile Regierung hätte verheerende Folgen und scheint zurzeit unwahrscheinlich. Staatsanwälte werfen manchen der älteren Generäle vor, sie hätten eine Verschwörung großen Stils gegen die AKP-Regierung angezettelt. Sie wollten durch ihre eigenen Leute in der Türkei ein großes Chaos anrichten, und dann sagen, die APK-Regierung sei dafür verantwortlich. Auf diese Weise hätte die Armee dann einen guten Grund, einzugreifen und die AKP verbieten zu lassen. – Es ist noch nicht letztlich erwiesen, aber manche Indizien deuten darauf hin, dass die Morde in Malatya und die noch andauernde schwere Bedrohung christlicher Leiter Teil dieser von einigen Generälen gesteuerten Verschwörung waren und sind. Die Richter in Malatya zogen zwar die Mörder zur Rechenschaft, zeigten aber kein großes Interesse daran, die Hintermänner ausfindig zu machen und zu verurteilen. Wir können nicht vorhersagen, wie die politische Entwicklung weitergehen wird, und was für die Gemeinde in der Türkei gut sein wird. Wir können auch nicht vorhersagen, ob längerfristig der türkische Nationalismus oder der moderate Islam das kleinere Übel sein wird. Wir wissen nicht, ob wir eine Aufnahme der Türkei in die EU befürworten sollen oder nicht. Es ist gut zu wissen, dass Gott den Überblick hat, er sieht sowohl zurück in die Vergangenheit als auch vorwärts in die ferne Zukunft. Wir können das Regiment über die Völker getrost ihm überlassen.

 

Orientierung 2012-03; 01.07.2012

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